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schandfleck.ch_textkritik/2008/mai
daniel costantino
 

betrachtungen zu ernst stadler


einige gedichte aus der sammlung "der aufbruch", 1914

Worte

Man hatte uns Worte vorgesprochen, die von nackter Schönheit und Ahnung und zitterndem Verlangen übergiengen.
Wir nahmen sie, behutsam wie fremdländische Blumen, die wir in unsrer Knabenheimlichkeit aufhiengen.
Sie versprachen Sturm und Abenteuer, Überschwang und Gefahren und todgeweihte Schwüre -
Tag um Tag standen wir und warteten, daß ihr Abenteuer uns entführe.
Aber Wochen liefen kahl und spurlos, und nichts wollte sich melden, unsre Leere fortzutragen.
Und langsam begannen die bunten Worte zu entblättern. Wir lernten sie ohne Herzklopfen sagen.
Und die noch farbig waren, hatten sich von Alltag und allem Erdwohnen geschieden:
Sie lebten irgendwo verzaubert auf paradiesischen Inseln in einem märchenblauen Frieden.
Wir wußten: sie waren unerreichbar wie die weißen Wolken, die sich über unserm Knabenhimmel vereinten,
Aber an manchen Abenden geschah es, daß wir heimlich und sehnsüchtig ihrer verhallenden Musik nachweinten.

je älter ich werde, desto stärker ergreift mich dieses gedicht. mehr durchgestanden als blosse abnutzung durch gewöhnung. den untergang eines glaubens überlebt. wie manches damit fortgespült. und gift und galle drum erworben.
den knabenhimmel, noch, des traums. aussöhnung mit meinem geschick, die mir verblieben. -

stadlers worte eines 30-jährigen - vom dichter zum leser fast eine ganze generation - überzeugen durch ihre schönheit und konzentration. stadler führt einen hochmusikalischen, souveränen, mitreissenden bogen. intensive verlebendigung einer tiefen menschlichen erfahrung. ebenso ausgeprägte reflexion wie hoher grad der intuition. dichte des wohlklangs, einer unaufdringlichen und wohlproportionierten lautmalerei, ein meisterhaft komponierter stabreim sind nicht forcierter effekt als wie mit dem zaunpfahl auf die sprache eingedroschen, sondern reicher ertrag kultivierter sensibilität und einer grossen liebe zum wort.

Man hatte uns Worte vorgesprochen, die von nackter Schönheit und Ahnung und zitterndem Verlangen übergiengen.
Wir nahmen sie, behutsam wie fremdländische Blumen, die wir in unsrer Knabenheimlichkeit aufhiengen.
Sie versprachen Sturm und Abenteuer, Überschwang und Gefahren und todgeweihte Schwüre -
Tag um Tag standen wir und warteten, daß ihr Abenteuer uns entführe.

man fühlt sich umfangen von magischer kraft. die reinheit des frühen empfindens. die treue zum wort, das man sich gab. die von scham zurückgestaute verwegenheit. das prickeln des eros, im weiten und engen sinn. die wie von zauberspruch verheissene zukunft, die aussicht eines grossen abenteuers auf messers schneide. das heldentum und die mannbarkeit. man hat nichts vergessen. man gäbe sein altes, verpfuschtes leben ohne zögern dafür.
und wie ruhig ist das gesetzt, ob aller dynamischen zusammenballung, als walte ein klarer himmel über aufkommendem sturm auf see.

Aber Wochen liefen kahl und spurlos, und nichts wollte sich melden, unsre Leere fortzutragen.
Und langsam begannen die bunten Worte zu entblättern. Wir lernten sie ohne Herzklopfen sagen.
Und die noch farbig waren, hatten sich von Alltag und allem Erdwohnen geschieden:
Sie lebten irgendwo verzaubert auf paradiesischen Inseln in einem märchenblauen Frieden.

eine auszehrende monotonie setzt ein, ein gegensog zum leben selbst. affektunterdrückung und kompensatorische idealbildung durchaus nietzscher prägung.
eine poetische sprache wirkt auf das vorstellungsvermögen des lesers. er wird seine lebenserfahrung ins spiel bringen, seine interpretation des lebens auffrischen und einen regen austausch mit der lektüre pflegen. sie enthält eine mächtige subjektive kraft und ergreift den ganzen menschen und leser, dem künstlerische empfindung gegeben, möglicherweise in einem etwas unterschwelligeren masse als dem dichter. in einer völlig passiven, konsumorientierten haltung werden keine früchte zu ernten sein. da belasse man es, seine bibliotek mit den zahllosen dilettanten oft zweifelhaften willens zu bestücken, deren prekäre poetik gedanklich und stilistisch missklingt wie übler sound, alles weghaut und reduziert, was zum leben erweckt werden könnte.
besonderen reiz bieten stadlers langzeilen, polymetrische, erzählender prosa verwandte gebilde. der endreim tritt etwas in den hintergrund zugunsten des stabreims und umso edler glänzender und sich widerspiegelnder lautmalerischer reflexion. wieviel grosse, ausgereifte musikalität im zusammenspiel von vokal und konsonant, wortwörtlich: zusammenklang!

Wir wußten: sie waren unerreichbar wie die weißen Wolken, die sich über unserm Knabenhimmel vereinten,
Aber an manchen Abenden geschah es, daß wir heimlich und sehnsüchtig ihrer verhallenden Musik nachweinten.

man achte beispielshalber auf: knabenhimmel - heimlich - verhallenden. wussten - waren - wolken. unerreichbar - heimlich - weinten.
ein solches gutes gedicht verbreitet ein klima diverser atmosfärischer schichten und unterspülungen. es erwächst einem organischen zusammenspiel subjektiver stimmung, gedanklicher tiefe und dem hohen künstlerischen vermögen der verlebendigung.
die erregung des anfangs. des knaben zärtliches, ehfürchtig gehütetes geheimnis. das verlangen nach sinnlicher erfahrung, nach abenteurlicher zukunft. sein treues warten. das fieber, die bereitschaft, dies glück!
und der bann eines entrückten zaubers. ob aller trauer, der schönen sprache verdankt, ein tiefer trost.

Tage

II

O Gelöbnis der Sünde! All' ihr auferlegten Pilgerfahrten in entehrte Betten!
Stationen der Erniedrigung und der Begierde an verdammten Stätten!
Obdach beschmutzter Kammern, Herd in der Stube, wo die Speisereste verderben,
Und die qualmende Öllampe, und über der wackligen Kommode der Spiegel in Scherben!
Ihr zertretnen Leiber! du Lächeln, krampfhaft in gemalte Lippen eingeschnitten!
Armes, ungepflegtes Haar! ihr Worte, denen Leben längst entglitten -
Seid ihr wieder um mich, hör' ich euch meinen Namen nennen?
Fühl' ich aus Scham und Angst wieder den einen Drang nur mich zerbrennen:
Sicherheit der Frommen, Würde der Gerechten anzuspeien,
Trübem, Ungewissem, schon Verlornem mich zu schenken, mich zu weihen,
Selig singend Schmach und Dumpfheit der Geschlagenen zu fühlen,
Mich ins Mark des Lebens wie in Gruben Erde einzuwühlen.

ein weniger überzeugendes, deutlich konventionelleres gedicht. ihm fehlt im vergleich der mehrdimensionale, polyfon zusammenklingende gehalt. die poetische substanz ist dünner, die ganz persönliche, unverwechselbare sprache schimmert nur hie und da durch die verse, die künstlerische gestaltung erleidet einbussen durch zu parate, zu naheliegende, zu stark verstandesmässig geprägte und entsprechend poetisch etwas abgegriffene worte und metafern. die entehrten betten, die 'stationen' der erniedrigung, worte, 'denen leben längst entglitten' scheinen mir nicht mehr von erstrangiger qualität, von genialität durchdrungen zu sein. ebensowenig gewinnt nach reiflicher überlegung die zeile von der wackligen kommode mit dem zerschlagenen spiegel meine sympatie, sie hat etwas zu demonstratives, berechnetes, fast plattes.
allerdings gestehe ich dem gedicht eine genaue analyse des spannungsfeldes religion und erotik zu, unheilvolles christliches erbe, die brisanz der sünde, verzehrende begierde infolge, das gut beobachtete elend eines in den schmutz geredeten gewerbes. die sucht, trotzig und lüstern das verbotene zu tun, sicherheit der frommen und würde der gerechten anzuspeien, die soziale brandmarkung und das entsprechend trübselig erscheinende ambiente, der psychologisch stimmige verlorenheits-, verkommenheitsgedanke - als milieustudie sowohl des innern wie des äussern scheint mir die sache auf den punkt gebracht. 'selig singend schmach und dumpfheit der geschlagenen zu fühlen' - das gefällt mir, das ist gut gesagt und recht getroffen. den stempel des dichters trägt ausserdem der ausruf: "seid ihr wieder um mich, hör' ich euch meinen namen nennen?" - da, an dieser beschwörungsformel lässt sich der spuk im kopf und der wahn im innenleben eines grenzgängers ermessen, mehr: erahnen und erfühlen. und auch in der schlusszeile 'ins mark des lebens wie in gruben erde einzuwühlen' geniessen wir ein lebendiges, transparentes dichterwort.

Gegen Morgen

Tag will herauf. Nacht wehrt nicht mehr dem Licht.
O Morgenwinde, die den Geist in ungestüme Meere treiben!
Schon brechen Vorstadtbahnen fauchend in den Garten
Der Frühe. Bald sind Straßen, Brücken wieder von Gewühl und Lärm versperrt -
O jetzt ins Stille flüchten! Eng im Zug der Weiber, der sich übern Treppengang zur Messe zerrt,
In Kirchenwinkel knien! O, alles von sich tun, und nur in Demut auf das Wunder der Verheißung warten!
O Nacht der Kathedralen! Inbrunst eingelernter Kinderworte!
Gestammel unverstandner Litanein, indes die Seelen in die Sanftmut alter Heiligenbilder schauen . .
O Engelsgruß der Gnade . . ungenannt im Chor der Gläubigen stehn und harren, daß die Pforte
Aufspringe, und ein Schein uns kröne wie vom Haar von unsrer lieben Frauen.

stadler, 'der konservativste der expressionisten', wie ich vernommen, entwickelt das religiöse tema hier nicht wie häufig im zusammenhang mit der sexualität, mit schmach und sünde, sondern mit der sehnsucht nach einkehr und verklärung, nach meiner auffassung einem paradiesischen zustand. bis hierhin hoffe ich ihn verstehen zu können, da mir die religiöse konnotation, die symbolik des christentums seit je fremd gewesen und ich nicht übers 'unverständnis der litaneien' hinweggekommen bin, sich gerade dieser punkt negativ auf mein verhältnis zur religion ausgewirkt. vielleicht sind die dinge des glaubens in frühster kindheit entschieden und ein junger, schon frommer mensch nimmt in demut das unverständnis hin, das seinem wachsenden intellekt in die quere kommen muss. nichtsdestotrotz streift mich eine ahnung hier, was zumindest im erleben des kindes vor sich gehen mag, dessen inbrunst nun einmal mit religiösem brauch verbandelt.

Tag will herauf. Nacht wehrt nicht mehr dem Licht.
O Morgenwinde, die den Geist in ungestüme Meere treiben!
Schon brechen Vorstadtbahnen fauchend in den Garten
Der Frühe.

sind das nicht wunderbare worte? den nenn ich einen dichter, der es versteht, der sprache neue tragende säulen aufzurichten. dessen arbeit einer bewusstseinserweiterung verpflichtet, einer filosofischen und künstlerischen transzendenz, einem disziplinierten gedanken- und stimmungsgefüge. der in der tradition alter meister das neue entdeckt, das unerforschte freilegt, eine nichtgehörte tonart komponiert.
o sprachgesindel, heutiges, das den ungeist in trübe tümpel drückt! und mit dem schlamm sich zum bessern menschen malt.
(aber goethe war gross! das hat man sich ins schulheft notiert! und trägt den satz durchs toll verpatschte dichterleben als wie eine blasfemie!)

O jetzt ins Stille flüchten! Eng im Zug der Weiber, der sich übern Treppengang zur Messe zerrt,
In Kirchenwinkel knien! O, alles von sich tun, und nur in Demut auf das Wunder der Verheißung warten!

als konsequenter kitsch- und kirchengegner erfährt man kraft der worte eines künstlers etwas vom reize der verblendung hier: das einssein mit der herde. geteilte last der verlorenheit ist leichte last. dieses 'alle sind wir gleich', derselben macht untertan, wandelt sich zur erhebung. das dargereichte opfer des verstandes, die befreiung vom denkenden selbst wird, wie alles feierlich getötete, mit einem rauschhaften wahn vergütet.

O Engelsgruß der Gnade . . ungenannt im Chor der Gläubigen stehn und harren, daß die Pforte
Aufspringe, und ein Schein uns kröne wie vom Haar von unsrer lieben Frauen.

einem so persönlich formulierten bekenntnis eignet etwas unaufdringliches gegen einen leser, der mit dem christlichen inhalte nichts gemein. er kann es stehen und gelten lassen als einen vorgang, dem er in anderer form nicht weniger ausgesetzt. ein wie gläubig tier ist man als mensch!
sprachlich und poetisch gibt es nichts zu nörgeln da, und mir scheint es keine geringe leistung stadlers, etwas wie verständnis für religiösen fetisch in mir geweckt und damit meine interpretation von der welt gefördert zu haben.

Winteranfang

Die Platanen sind schon entlaubt. Nebel fließen. Wenn die Sonne einmal durch den Panzer grauer Wolken sticht,
Spiegeln ihr die tausend Pfützen ein gebleichtes runzliges Gesicht.
Alle Geräusche sind schärfer. Den ganzen Tag über hört man in den Fabriken die Maschinen gehn -
So tönt durch die Ebenen der langen Stunden mein Herz und mag nicht stille stehn
Und treibt die Gedanken wie surrende Räder hin und her,
Und ist wie eine Mühle mit windgedrehten Flügeln, aber ihre Kammern sind leer:
Sie redet irre Worte in den Abend und schlägt das Kreuz. Schon schlafen die Winde ein. Bald wird es schnei'n,
Dann fällt wie Sternenregen weißer Friede aus den Wolken und wickelt alles ein.

was ich an dem gedicht bewundere, sind die bestechenden bilder und vergleiche.
es fängt ganz gewöhnlich an:

Die Platanen sind schon entlaubt. Nebel fließen.

aus diesen zwei sätzen, die jeder denken und sagen könnte, entwickelt stadler einen so guten vergleich, dass er tausend dürre worte über den winteranfang ersetzt:

Wenn die Sonne einmal durch den Panzer grauer Wolken sticht,
Spiegeln ihr die tausend Pfützen ein gebleichtes runzliges Gesicht.

und wie wohlklingend gesagt, wie sprachsinnlich, wie formverliebt!
stadler enthält sich jeglichen klischees, riskiert viel, wenn er weiterfährt:

Alle Geräusche sind schärfer. Den ganzen Tag über hört man in den Fabriken die Maschinen gehn -
So tönt durch die Ebenen der langen Stunden mein Herz und mag nicht stille stehn

eine fabrik mitten in die naturlandschaft gestellt, der poesie mit maschinen das gesicht zerfetzt! dazu gehört schon dichterische rechtschaffenheit, gegen den poetischen mainstream noch sogar der heutigen zeit gesetzt!
... und pflegt in der moderne ihr romantisierendes pfuschwerk weiter, als brächte nichts die kunst in gefahr! recht so, stadler, und den zeitgemässen lebenspuls noch den fabrikmaschinen abgelauscht. ja, der luftdruck hat sich seit goethe verändert. die geräusche sind schärfer geworden.

Und treibt die Gedanken wie surrende Räder hin und her,
Und ist wie eine Mühle mit windgedrehten Flügeln, aber ihre Kammern sind leer:
Sie redet irre Worte in den Abend und schlägt das Kreuz.

die bodenhaftung bleibt, kein vergleich ist aus den fingern gesogen, kein bravfrommer betrug, kein wolkenkuckucksheim. die sprache folgt ebenso treu den sichtbaren vorgängen wie sie zur inspiration anstachelt, licht und schatten wirft, transzendenz erschafft. kunst machen heisst den rahmen sprengen. kunst erleben heisst stadler lesen.

Bald wird es schnei'n,
Dann fällt wie Sternenregen weißer Friede aus den Wolken und wickelt alles ein.

der letzte gedanke ist nicht neu. schnee und frieden. aber bleibt gültig. und stadler zitiert ihn nicht bloss herbei, sondern fügt ihn ins bild, in die landschaft, organisch ins gedicht, und dies fast schmunzelnd, scheint mir, gütig, aber an der versöhnung zweifelnd. was eingewickelt, wird schon wieder ausgepackt.

Heimkehr

(Brüssel, Gare du Nord)

Die Letzten, die am Weg die Lust verschmäht; entleert aus allen
Gassen der Stadt. In Not und Frost gepaart. Da die Laternen schon in schmutzigem Licht verdämmern
Geht stumm ihr Zug zum Norden, wo aus lichtdurchsungnen Hallen
Die Schienenstränge Welt und Schicksal über Winkelqueren hämmern.
Tag läßt die scharfen Morgenwinde los. Auffröstelnd raffen
Sie ihre Röcke enger. Regen fällt in Fäden. Kaltes graues Licht
Entblößt den Trug der Nacht. Geschminkte Wangen klaffen
Wie giftige Wunden über eingesunkenem Gesicht.
Kein Wort. Die Masken brechen. Lust und Gier sind tot. Nun schleppen
Sie ihren Leib wie eine ekle Last in arme Schenken
Und kauern regungslos im Kaffeedunst, der über Kellertreppen
Aufsteigt - wie Geister, die das Taglicht angefallen - auf den Bänken.

ein fast wortkarger beginn.

Die Letzten, die am Weg die Lust verschmäht; entleert aus allen
Gassen der Stadt. In Not und Frost gepaart.

die aussparung des prädikats, gar des subjekts. so sehr sich dieser dichter aufs drängende versteht, aufs erhebende, wie mitreissend er sich ins patetische, rauschhafte steigern kann - hier wirkt die reduktion, der lakonische befund, die kalte distanz.
als sprachliche ingredienzen letzten - lust - entleert; die zwillingsformel not und frost. die kontinuität des betonten vokals e (ä), abgelöst vom a. mündend in o-a.
konzentrierte diktion. hohe plastizität. essenz.

Tag läßt die scharfen Morgenwinde los. Auffröstelnd raffen
Sie ihre Röcke enger. Regen fällt in Fäden. Kaltes graues Licht
Entblößt den Trug der Nacht.

der verzicht auf den artikel. die desillusionierung ohne exklamation. nicht klage noch larmoyanz. es wirkt allein 'verschmäht' noch nach. die gewohntheit des kleiderrichtens und die monotonie des atmosfärischen. knapp und treffend gesagt. ohne schonung. ohne die geringste emfase.
was sich von selbst versteht, wird vorausgesetzt, da allgemeinbekannt. kein dichter hausiert mit schlagwort und 'schlimm', 'seht wie trostlos und verdorben' und derlei mehr, mit superlativ- und pejorativexzessen, mit skandal und sensation. er gestaltet in tieferer schicht. er lässt sich nicht billig konsumieren. sein produkt individuelle massarbeit, keine anfertigung von der stange. er zielt nicht auf den effekt. er arbeitet der sprach- und gedankenkorruption entgegen.
(vom kitschier wie seinem konsumenten gilt das kraussche wort, dass dort, wo einmal empfunden wird, alles empfunden wird. noch das nichts empfunden und so das nichts geleistet.)
die zusammenklänge 'lässt' und 'fällt' und 'fäden'; '-fröstelnd', 'röcke', '-blösst'. der konsonant r: scharf und fröstelnd. morgen - raffen - röcke. regen, grau und trug. die vokalischen elemente wie musik.
aber die analyse offenbart keine rezeptur. einverleibtes, durch erfahrung und übung gesteigertes sprachempfinden, das wie von selbst sein wesen treibt. es ist die insgesamte wirkung, die zählt, die umfassende komposition, die überzeugt. jedes gedicht wird seine eigenen und ihm selbst gemässen errungenschaften haben. es geht nicht um ein 'man nehme' wie im kochbuch, sondern um eine ars poetica, ein erfinden. und es gibt keine wiederholung. nur ein weiter. das nächste muss neu erfunden sein.

Geschminkte Wangen klaffen
Wie giftige Wunden über eingesunkenem Gesicht.

welch grossartiges, grauenhaftes bild! diese verzerrung, diese fratzenvision! dieser erbarmungswürdige, genial inszenierte totentanz!
und wieder: das meisterhafte spiel der vokale und konsonanten.
geschminkt und giftig und eingesunken. geschminkt und giftig und gesicht. wangen klaffen. wunden - eingesunken. gesunken - gesicht.

und dann der grosse schlussatz. gespenstisch. sfärisch. formvollendet.

Nun schleppen sie ihren Leib wie eine ekle Last in arme Schenken
und kauern regungslos im Kaffeedunst, der über Kellertreppen
aufsteigt - wie Geister, die das Taglicht angefallen - auf den Bänken.

stadlers 'aufbruch' sei einem an dichtung interessierten leser besonders angeraten. über das grossartige gedicht 'gang in der nacht', das ebenfalls den zyklus ziert, habe ich mich in meinen 'betrachtungen zur deutschen lyrik' schon ausgelassen:

http://www.schandfleck.ch/textkritik/rose_dc.html

ich möchte meine kurzen anmerkungen zum können eines deutschen dichters aus dem elsass mit einem liebesgedicht beenden. ein zärtlicher, recht romantischer stadler hier, der im selben jahr, als er den gedichtband publiziert, 31-jährig im krieg gefallen.

Glück

Nun sind vor meines Glückes Stimme alle Sehnsuchtsvögel weggeflogen.
Ich schaue still den Wolken zu, die über meinem Fenster in die Bläue jagen -
Sie locken nicht mehr, mich zu fernen Küsten fortzutragen,
Wie einst, da Sterne, Wind und Sonne wehrlos mich ins Weite zogen.
In deine Liebe bin ich wie in einen Mantel eingeschlagen.
Ich fühle deines Herzens Schlag, der über meinem Herzen zuckt.
Ich steige selig in die Kammer meines Glückes nieder,
Ganz tief in mir, so wie ein Vogel, der ins flaumige Gefieder
Zu sommerdunklem Traum das Köpfchen niederduckt.

"schon das tema, das er sich erwählt, verrät den lyriker" - diesem mustergültigen satz eines dummkopfs, vor jahrzehnten in einer gedichtbesprechung publiziert, haben sich inzwischen noch unerhörtere ansichten beigesellt. natürlich verrät sich die kunst nicht am tema. der obige ausspruch ist selbst ein verrat an der kunst. es gibt recht wenige gedichte auf der welt, und es gibt eine millionenzahl löchriger verse. man lerne, zu unterscheiden, so lernt man etwas fürs leben. es hat keinen wert, in die löcher bedeutung hineinzulegen.
aber es hat einen unschätzbaren wert, stadler zu lesen. man verliebt sich in ihn mit zwanzig. man bewundert ihn mit dreissig. man geniesst ihn mit vierzig. und mit fast fünfzig ist er einem zum rechten freund geworden.

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