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schandfleck.ch_textkritik/2008/mai
daniel costantino
 

michel tournier: zwillingssterne

die stärke des romans liegt in aufbau und durchführung einer ideologie, eines staunenswerten, paradoxen filosofischen modells, in der erfindung eines gegenläufigen moral- und sozialsystems, im kreativen coup einer blasfemischen vorführung und der denunziatorischen, sarkastischen, polemischen lust des autors, die tragenden säulen des biedersinns und des bürgerlichen anstands, der abendländischen kultur zu zertrümmern. sie erweist sich in der genialen brandmarkung und unterhaltsamen demaskierung gesellschaftlicher bräuche, konformer stupidität, in seiner art, tabus anzufassen und zu verspotten, werte, ordnung, konventionen anzugreifen, blosszustellen, umzumünzen, als eine begnadete subversive leistung gegen die ehrbarkeit, die das achtbare korrumpiert und das geächtete auf den sockel hievt, den ganzen moralischen müll aufdeckt und beleuchtet und die grundsätze zivilisatorischer sitte auf den kopf zu stellen vermag.
dies kapitale vermögen tourniers umfasst, nach einem etwas oberflächlich geratenen, recht unscharfen beginn, die ersten zwei drittel des buches, steigert sich darin kontinuierlich von kapitel zu kapitel, ergreift immer mehr soziale bereiche, erweitert und vertieft die zusammenhänge, erweist sich als haarsträubende analyse, als veritable, destruktive gesellschaftskritik, ja verdichtet sich zu einer spektakulären gegen- und schattenwelt, erschafft im dialektischen gegensatz eine spezifisch eigene, ingeniöse, in dieser form und fülle nicht dagewesene und fantastische kosmologie.
leider fällt das letzte drittel ab, bleibt hinter den erwartungen zurück, trudelt in fast endlosen wiederholungen und immer schwächlicher werdenden variationen des temas aus. nur wenig spannung noch und dünnere substanz auf den letzten 150 seiten. der roman zerfranst, die beabsichtigte höhenflug misslingt. die beschränkung nach 300 seiten auf ein verklingendes anhängsel, eine kleine coda, eine letzte reminiszenz, hätte vollauf genügt und dem werke gutgetan.
seine glanzpunkte verdankt der roman der provokation, dem sarkasmus und der monströsität. nicht aber, ich werde darauf zu sprechen kommen, der sprache selbst.
idee und gegenidee, punkt und kontrapunkt. wenn tournier nicht, und grandios! den gegenentwurf herausarbeitet, die schattenwelt entwirft, bleibt seine darstellung ihres kontrasts, der normalität, der dominierenden konvention, der alltagsrealität, im klischeehaften. dass der ungleich voluminösere schattenteil ebenso klischeehaft sich präsentiere, würde man wohl beweisen können - aber jetzt wirkt das befreiend, zynisch, unterhaltend schockant. ein intellektueller spass sondergleichen. an einem kerntema, der homosexualität, erläutert: die gesellschaftliche ächtung der homosexualität kehrt tournier einfach um in eine ächtung des heterosexuellen und der heterosexualität. alle schmach, alle unterdrückung, jede denkbare erniedrigung zahlt er mit derselben münze zurück. plötzlich steht die spiesserwelt kopf, wird ausgegrenzt und der lächerlichkeit preisgegeben, der widernatürlichkeit, der geschmacklosigkeit. tournier betreibt das spiel mit einer hauptfigur, mit alexandre, der haargenau dem typ des homosexuellen dandys entspricht, dem real existierenden klischee des snobistischen, leicht effeminierten, triebgesteuerten und spleenigen home fatal, dessen harausbildung sowohl vom schrecken der bürger wie vom talent des ausgegrenzten, dem schreckbild sich anzugleichen, gefördert wurde - und bläst furios zur gegenattacke.
ein buch voller verklärung des zwillingstums und der homosexualität. über die müllabfuhr französischer grossstädte und über ein heim mit geistig behinderten insassen. es wären zahlreiche andere untertitel denkbar. zweifellos ein dicht verwobenes gespinst, ein gesellschaftsroman aus der perspektive des aussenseitertums. es bürgen dafür die selber erzählenden hauptfiguren und das schicksal einer französischen fabrikantenfamilie in der zeit kurz vor, während und nach dem 2. weltkrieg. was hinzukommt, ist eine tadellose recherche, es wäre unmöglich, dass ein einzelner autor soviel fachwissen über die entsetzlichsten geistigen behinderungen und über müllbeseitigung von alleine erbringen könnte. um das letzte, misslungene drittel des romans zu schreiben, ist tournier um die ganze welt gereist: städtebeschreibungen aus eigener anschauung, nur haben sie mit dem ganzen roman nichts mehr oder wenig mehr zu tun.

ich schlage vor, einen kleinen rundgang durch den roman zu unternehmen.
die fabrikantenfamilie surin:
marie-barbara, gattin und vielfache mutter.
edouard, gatte und vater. besitzer einer textilfabrik.
jean und paul, seine söhne und ein zwillingspaar. unterhalten eine liebesbeziehung und sprechen miteinander die zwillingssprache äolisch.
alexandre, bruder edouards, dandy und 'könig des unrats'.
gustave, der andre bruder edouards, eine blasse nebenfigur.
das der textilfabrik angegliederte kinderheim sainte-brigitte und einige der zöglinge und betreuerinnen.
méline, magd im haushalt marie-barbara surins.

der roman beginnt mit einer realistischen sprache recht einfallsreich, aber eindimensional. es wird sich im weitern verlauf zeigen, dass tournier am besten schreibt, wenn seine figuren selber sprechen. hier, im auftakt, redet ein erzähler, stellt die familie vor, die fabrik, den ganzen betrieb auf 'pierres sonnantes', erörtert die gesellschaftsordnung und das doppelleben edouards, der eine geliebte, florence, im fernen paris unterhält. das alles wird sehr intellektuell vor einen hingestellt, gar nicht erzählt, sondern hingestellt und wie abschliessend kommentiert. das kann funktionieren, weil nachher die einzelnen hauptfiguren zu erzählen beginnen, sonst ergäbe das einen langweiligen roman, zu dem man keine literarische, nur eine voyeuristische beziehung eingehen könnte. ein bisschen ähnelt die art des schreibens hier der sprache max frischs im 'stiller', was die darstellung einer ehe betrifft. ein andauerndes résumieren und psychologisieren, aber wenig veranschaulichung übers jedem sichtbare, grad greif- und denkbare hinaus.

> Die Krankheit, an der er nach zwanzig glücklichen, fruchtbaren Ehejahren litt, war eine Art Spaltung seines Wesens, durch die in ihm Durst nach Zärtlichkeit und sexueller Hunger auseinanderfielen. Er war stark, ausgeglichen, seiner selbst und der Seinen sicher gewesen, solange dieser Durst und dieser Hunger verschmolzen waren mit seinem Geschmack am Leben, seiner leidenschaftlichen Bejahung des Daseins. Nun aber flösste Marie-Barbara ihm nur noch eine grosse, unbestimmt-sanfte Zärtlichkeit ein, in die er seine Kinder, sein Haus, seine bretonische Küste mit einschloss, ein tiefes Gefühl ohne Glut und Feuer, so wie jene Herbstnachmittage, an denen die Sonne aus den Nebeln des Arguenon emportaucht, um sogleich in lieblichen, goldenen Wolken wieder hinabzusinken. Seine Männlichkeit gewann er bei Florence wieder, in ihrer roten Höhle voll naiv-dubiosen Hexenwerks, das ihm ein bisschen zuwider war, obschon sie sich den Anschein gaben, als lachten sie miteinander darüber. Auch noch etwas anderes erstaunte ihn und zog ihn an: die ihr eigene Fähigkeit, ihre mediterrane Herkunft, ihre Familie, auf die sie leichthin anspielte, und letzten Endes sich selbst aus der Distanz zu betrachten. Beobachten, urteilen, sich lustigmachen können, ohne darum etwas eigenes zu verleugnen, dabei den Sinn für andere unversehrt, seine Liebe tief und unantastbar zu bewahren - dazu war er nicht imstande, und gerade dafür gab ihm Florence ein mustergültiges Beispiel. <

etwas platt die beschreibung der geistig behinderten kinder, der mutterschaft marie-barbaras ("ihre kinder... diese mutter ohne zahl weiss gar nicht recht, wie viele es sind."// "vielleicht ist er einfach entschwunden, weil seine frau so völlig in ihrer ersten schwangerschaft aufging, dass sie deren flüchtigen urheber vergessen hatte.").
der roman fängt mit dem 2. kapitel an, mir zu gefallen, mit 'alexandres tronbesteigung', das heisst dessen übernahme des väterlichen müllunternehmens. alles, was mir am buch gefällt, wird rund 280 seiten später mit alexandres tode enden.

> Nach und nach lockte mich das Negative, fast möchte ich sagen das Invertierte dieses Erwerbszweigs. Hier war ein Reich, das sich in den Strassen der Städte breitmachte und das auch seine Ländereien - die Müllplätze - besass, aber es reichte auch tief hinein in das Intimste, geheimste Leben der Menschen, denn jede Handlung, jede Bewegung hinterliess in ihm die Spur, den unleugbaren Beweis dafür, dass sie geschehen war: Zigarettenkippen, Brieffetzen, Küchenabfälle, Damenbinden usw. Es ging letztlich darum, Besitz zu erfgreifen von einer ganzen Bevölkerung, und zwar von hinten her, auf eine umgekehrte, auf den Kopf gestellte, nachtseitige Art. <

gerade der schöngeist alexandre, wie schön die pointe, baut sich ein müllimperium auf und entwickelt aus einer anfänglich exotischen distanz immer grössere lust, den ganzen gesellschaftsmüll unter seine fittiche zu bringen, an ihm herumzuriechen, durch ihn hindurchzuwaten, ihn zu äufnen, zu beherrschen und zu verwerten und ihn als materielles und geistiges symbol der kultur schlechthin hochleben zu lassen. er gewinnt allem unrat reiz und farbe ab, duft und geschmack, erhabenheit und grösse, und erhebt sich dermassen, parallel zum spott- und abgesang auf die heterosexualität und der ihr zugrundeliegenden lustfeindlichen moral, ein zweites und ebenso grandioses mal über die miesepeter gegen die lebensfreude, die bösherzige und spiessige sittenwächterei, die engstirnige und moralinsaure sauberkeitsevangelisation, die rigide unterdrückung und ihre lammfromme gefolgschaft.
die heterosexualität voller regeln, zwänge, verbote, eintönig und dumpf, im gefängnis der konvention, der limitierung, der ehe, des grauen einerleis von reproduktion und monogamie, die homosexualität dagegen ein einziges wagnis und glück, lauter mutproben und abenteuer, glorreiche streifzüge und siege, jagdreviere und orte der begegnung, stetige extatische trunkenheit und gluten der leidenschaft. dick aufgetragene sexuelle fantasien, groteske szenen, hochamtliche zelebrierung tabuisierter temen. und dieser spott, dieser sarkasmus, dieser mirakulöse, fundamentale dauerprotest gegen die zivilisierte und lebensfeindliche ehrbarkeit, die lächerlichmachung der macht schlechthin - ich kann das buch trotz etlicher mängel nur empfehlen. es macht freude, einen tabubrecher am werk zu sehen, der die herrschaftsverhältnisse aufdeckt und verspottet und ein gegensystem hinstellt, das in ihnen selbst unterirdisch und korrumpierend schon aktiv ist, als das eigentlich befreiende und somit tragende, erhabene, heilige. tournier versteht es, aus der analyse eine geschichte, aus einer filosofie ein geschehen zu machen und darin immer neue wege und abwege aufzuzeigen, biegungen, brechungen, krümmungen zu verfolgen.
ähnlich verfährt der autor mit der behandlung des zwillingstemas, dem er das einlingswesen pejorativ gegenüberstellt. auch hier gelingt ihm eine saftige und launige gesellschaftsanalyse und ein munterer triumf über das gewöhnliche, eindimensionale, in verschiedener hinsicht zurückgebliebene der real existierenden normalität. dies tema zieht sich bis an den schluss des buches, indes ein drittes hauptrangiges, über die genialität der geistigen behinderung, sich nur auf einige kapitel erstreckt. schön der einfall, dreiecksbeziehungen und die damit zusammenhängenden motive und problemstellungen zu schildern, eine aus der heterosexuellen-, eine andre aus der homosexuellen-, die dritte aus der zwillingsperspektive. wirkt die erste ein wenig abgeklatscht und zu allbekannt, so hat es die zweite in sich, paart sich toruniers spitze zunge mit seiner reichen fantasie, die sich offenbar weniger im darstellen herrschender als vielmehr im überstülpen visionärer verhältnisse entfalten kann. ich würde sagen, zur heterosexuellen dreiecksbeziehung (wie zur heterosexualität an sich) steht der autor in einem distanzierten, etwas unscharfen und klischierten verhältnis, die homosexualität und deren komplexes beziehungsgeflecht kennt und nennt er aus eigener erfahrung, das schildert er alles sehr détailverliebt und bis in die hintersten ecken ausführlich und belebt. darüber hat er sich sehr viele gedanken gemacht und fassbare, unschematische charaktere erschaffen. das dritte verhältnis nun finde ich das erstaunlichste. was er da alles im zwillingstum erkennt und wie er die liebesbeziehung der brüder untereinander und dann das hinzukommen einer frau in des einen leben darstellt und verlebendigt, wie er schliesslich das zwillingstum und seine spezifischen chancen und gefahren aufstöbert und an ungeahnten dingen und vorgängen festmacht, ist fasenweise grosse literatur.
materie und pseudomaterie, stadt und antistadt, markt und schwarzmarkt... immer ziehen sich die trefflichsten und gut gefundenen und erfundenen gegensätze durch den über 300 seiten hervorragend konzipierten roman.
auf diesen gelungenen 300 seiten, also im guten teil des romans, ist es sehr stimmig, dass bald paul, dann der andre zwilling jean, bald wieder edouard, hernach wieder alexandre die kapitel schreiben. zwei der protagonisten, edouard und alexandre, sterben, andere, die auch mitgeschrieben, verschwinden, tauchen als autoren einfach nicht mehr auf. in dieser deutlich vom visionären, kontrapunktischen, von der persiflage geprägten teil muss gar nichts erklärt werden, es dürfen figuren für ein kapitel auftauchen und ohne weiteres wieder verschwinden. im letzten teil, pauls irrfahrt durch die welt auf der vergeblichen suche nach seinem bruder, wüsste man hingegen gerne, wer warum nicht schreibt oder eben doch. man fragt sich plötzlich, beispielsweise, wie paul soviel über seinen verstorbenen onkel alexandre wissen kann. es hängt wohl damit zusammen, dass die diversen städte, vancouver, venedig, berlin etc. und die dazukommenden temenkomplexe, die japanischen gärten, der bau der mauer in berlin und andere, auf einer sehr realen, keineswegs mehr fiktiven, sondern reportagemässigen ebene angegangen werden. das wirkt gegenüber dem vorherigen und in diesem umfang befremdlich und mit der zeit ohne zusammenhang mit allem zuvor erbrachten und geleisteten. ausserdem kommt ein mangel des schriftstellers tournier zum vorschein, der zuvor nicht störend ins auge stach: dass ihm eine dichterische sprache fehlt. die ganze reiserei, die für liebhaber zweifellos interessanten städteschilderungen gleichen doch mehr einem touristischen führer denn bedeutender literatur. solange tournier seine fantasien ausgeformt, seine gegenwelten folgerichtig aufgebaut, las sich sein roman spannend und anregend. jetzt aber kriegen die kapitel den charakter mehr oder weniger lustloser intermezzi, vielleicht aus der idee heraus, einen temporeichen wirbel zum schluss hinzukriegen. die innere spannung aber zerfällt, über rein rationale erkenntnis, über fotografisch genaue, aber leblose schilderung kommt er nicht mehr hinaus. blaise cendrars, der grosse schweizer dichter französischer sprache, hat ähnlich ausgefranste werke hinterlassen, nur in wenigen zwei oder drei büchern bilden seine romane eine kompakte einheit. man sieht es ihm aber nach, weil er immer, was er auch tut oder unterlässt, hervorragend schreibt, eine virtuose, mächtige, hochpoetische sprache pflegt, durchwegs ein grosses ästetisches vergnügen zu bieten hat.
tournier bietet ein intellektuelles vergnügen und ein filosofisches. er hat sich hinreissen lassen, einen hervorragenden roman zu zerreden und im letzten drittel inhaltlich auszudünnen. zerstört hat er ihn deswegen nicht, weil er nach zwei dritteln als abgeschlossen und sehr gelungen gelten kann.

man nehme seinen letzten teil für ein anderes buch.

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