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aus
"moravagine"
neunzehnhundert
beendete ich das studium der medizin. im august verliess ich paris und
ging in die schweiz, in das sanatorium waldensee in der nähe von
bern. mein freund und lehrer, der berühmte syfiligraf d'entraigues,
hatte mich dem leiter der anstalt, dr. stein, bei dem ich als erster assistent
anfangen sollte, wärmstens empfohlen. stein und sein haus waren damals
berühmt.
ich kam zwar frisch von der univerität, aber ich war den fachleuten
kein unbekannter mehr, da ich mir mit meiner dissertation über den
chemismus der krankheiten des unterbewusstseins einen namen gemacht hatte,
und nun brannte ich darauf, das joch der hochschule abzuschütteln
und dem offiziellen lehrbetrieb einen empfindlichen schlag zu versetzen.
jeder junge mediziner hat so etwas mal durchgemacht. ich hatte mich also
auf das studium der sogenannten "krankheiten des gehirns" spezialisiert,
und zwar vor allem auf die erforschung der nervösen störungen,
der ausgesprochenen ticks, der jedem einzelnen lebewesen eigenen verhaltensweisen,
die durch die fänomene jener kongenitalen halluzination verursacht
werden, als welche sich in meinen augen die überstrahlende, unausgesetzte
bewusstseinstätigkeit darstellt. dieses studium mit seinen verschiedenartigen
aspekten, die alle an die brennendsten fragen der medizin, der naturwissenschaften
und der metafysik rühren, mit all dem, was es an genauer beobachtung,
geduldiger lektüre, an allgemeinbildung, scharfblick und fingerspitzengefühl,
beharrlichkeit und logischem denken, an vorstellungsvermögen, an
gespür für zusammenhänge verlangt und in anbetracht des
weiten betätigungsfeldes der glanzvollen karriere, die es einem lebhaften,
hellen kopf versprach, musste einen so ehrgeizigen und aufgeschlossenen
menschen wie mich reizen, da es ihm die möglichkeit gab, sich mit
vehemenz durchzusetzen. ich baute übrigens auf meine dialektische
begabung - und auf die hysterie.
die hysterie, die grosse hysterie, war damals in ärztekreisen sehr
in mode. nach den vorarbeiten der schulen von montpellier und der salpêtrière,
die gewissermassen nur ihr studienobjekt festlegten und abgrenzten, hatten
mehrere ausländische gelehrte, namentlich der österreicher freud,
die frage aufgegriffen, sie erweitert, vertieft und aus dem rein experimentellen,
klinischen bereich herausgehoben, um daraus eine art parafysik der sozialen,
religiösen und künstlerischen patologie zu machen, bei der es
weniger darum ging, die entwicklung dieser oder jener spontan in der entferntesten
bewusstseinsregion entstandenen zwangsvorstellung zu erforschen und die
gleichzeitigkeit der beim patienten beobachteten empfindungen festzustellen,
als vielmehr darum, eine gefühlsmässige, angeblich rationale
symbolik der erworbenen oder angeborenen fehlleistungen des unterbewusstseins
aufzustellen, eine art traumbuch zum gebrauch der psychiater zu entwickeln,
wie es freud in seinen werken über die psychoanalyse kodifiziert
hatte und dr. stein in seinem stark frequentierten sanatorium waldensee
soeben erstmalig in praxi anwandte.
die patogenie als spezialgebiet einer allgemeinen filosofie anzusehen
- das hatte noch niemand gewagt. nach meiner meinung war man niemals streng
wissenschaftlich, das heisst objektiv, rein verstandesmässig und
frei von moralischen bedenken an sie herangegangen.
alle autoren, die diese frage behandelt haben, sind beladen mit vorurteilen.
anstatt den geheimen mechanismus der ursachen einer krankheit zu untersuchen,
betrachten sie "die krankheit an sich", verurteilen sie als
einen schädlichen ausnahmezustand und empfehlen vorweg tausend mittelchen,
sie zu unterdrücken, zu beseitigen, und definieren zu diesem zweck
die gesundheit als einen absoluten, feststehenden "normal"-zustand.
aber die krankheiten sind da. wir können sie weder nach belieben
schaffen noch abschaffen. wir sind ihrer nicht herr. sie bilden uns, sie
formen uns. vielleicht haben sie uns gezeugt. sie gehören zum tatbestand
"leben"; sie sind vielleicht sein stärkstes argument. sie
sind eine der zahllosen offenbarungen der urmaterie. sie sind vielleicht
die ursprünglichste offenbarung dieser materie, die wir ja nur an
den fänomenen der relation und der analogie untersuchen können.
sie sind intermediäres zwischenglied, übergangsstadium, der
gesundheitsstatus von morgen. sie sind vielleicht die gesundheit selbst.
eine diagnose stellen, heisst sozusagen das fysiologische horoskop stellen.
was allgemein gesundheit genannt wird, ist im grunde nicht anderes als
der augenblickliche, so und so beschaffene, in die abstraktion transportierte
aspekt eines krankheitszustands: ein bereits überwundener, erkannter,
definierter, abgeschlossener, für den allerweltsgebrauch eliminierter
und verallgemeinerter spezialfall. so wie ein wort erst in den dictionnaire
der académie française aufgenommen wird, wenn es längst
abgenutzt und der frische seines volkstümlichen ursprungs, der anmut
seiner poetischen bedeutung beraubt ist, oft mehr als fünfzig jahre
nachdem es geprägt wurde, und wie die definition, die man ihm dann
unterlegt, das altersschwache wort in einer vornehmen, falschen, willkürlichen
erstarrung aufbewahrt, einbalsamiert, in einer pose, die es zu seiner
zeit, als es aktuell, lebendig und unmittelbar war, nie gekannt hat, genauso
ist ein gesundheitszustand, wenn er erst als öffentliche angelegenheit
anerkannt in den besitz der allgemeinheit übergegangen ist, nur noch
das traurige schattenbild einer altmodischen, lächerlichen, erstarrten
krankheit, ein herausgeputztes altes weib, das sich in den armen seiner
liebhaber gerade noch aufrecht hält und sie anlächelt mit falschen
zähnen. ein gemeinplatz, ein fysiologisches klischee, eine sache
des todes. vielleicht sogar der tod selbst.
die epidemien und mehr noch die krankheiten des gehirns, die kollektiven
neurosen, kennzeichnen - wie die erdkataklysmen die geschichte unseres
planeten - die verschiedenen epochen der menschlichen entwicklung. hier
ist ein elementarer und komplizierter chemismus am werk, der bis heute
nicht erforscht worden ist. bei all ihrer gelehrtheit sind die heutigen
ärzte keine "physicians", wie die engländer sagen.
sie entfernen sich immer mehr vom studium und der beobachtung der natur.
sie haben vergessen, dass die wissenschaft eine art erbauung bleiben soll,
der reichweite unserer geistigen antennen unterworfen und angepasst.
profylaxe! profylaxe! schreien sie - und um die rasse zu retten, zerstören
sie die zukunft der art. im namen welches gesetzes, welcher moral und
welcher gesellschaftsordnung erlauben sie sich, so zu wüten? sie
internieren, sequestrieren, sperren die markantesten individuen ein. sie
verstümmeln die fysiologischen genies, die träger und verkünder
der gesundheit von morgen. sie nennen sich stolz fürsten der wissenschaft
und stellen sich, da sie an verfolgungswahn leiden, zugleich als deren
opfer hin. geheimnistuerisch überladen diese dunkelmänner ihre
sprache mit griechischem plunder und schleichen sich in dieser vermummung
im namen eines rationalen krämerliberalismus überall ein. dabei
sind ihre teorien der letzte dreck. sie haben sich zu knechten einer bürgerlichen
tugend gemacht, die früher den scheinheiligen frömmlern vorbehalten
war. sie haben ihr wissen in den dienst einer staatspolizei gestellt und
die systematische vernichtung alles dessen in die wege geleitet, was von
grund auf idealistisch, das heisst unabhängig ist. sie kastrieren
gewaltverbrecher und machen sich sogar an die gehirnlappen heran. senil,
impotent und eugenisch wie sie sind, glauben sie, das böse aus der
welt schaffen zu können. ihr grössenwahn wird nur noch von ihrer
gaunerei überboten, und nur die heuchelei bremst ihre nivellierwut,
die heuchelei und die lüsternheit.
sehen sie sich die irrenärzte an. sie haben sich in den dienst des
verbrechens der reichen gestellt, haben nach dem muster von sodom und
gomorrha verkehrte paradiese eingerichtet, freudenhäuser, deren schwelle
einer nur für schweres geld überschreitet und deren "sesam"
das scheckbuch ist. hier dient alles der pflege und entfaltung der ausgefallensten
laster. hier fördert die raffinierteste wissenschaft die ausschweifungen
schwachsinniger und verrückter, angesichts deren entsetzlich modernen
vielfalt die launen eines ludwig II. von bayern oder eines marquis de
sade spielereien sind. hier ist das verbrechen die norm. hier ist nichts
monströs, nichts widernatürlich. hier ist alles menschliche
fremd. die protese funktioniert in einem gummigepolsterten schweigen.
man setzt mastdärme aus silber und schamlippen aus chromleder ein.
die letzten gleichmacherischen nachläufer der kommune, die herren
doktoren guillotin, operieren zynisch aristokratische nieren und lenden.
sie haben sich zu geistigen lenkern des rückenmarks eingesetzt und
praktizieren kaltblütig die die laparotomie des bewusstseins. sie
erpressen, betrügen und sequestrieren, sie begehen die ungeheuerlichsten
verbrechen. mit entziehungen und geschickter dosierung zwingen sie ihre
opfer zu äter, opium, morfium und kokain. alles basiert auf einem
nach unfehlbaren statistiken aufgestellten schema. man kombiniert duschen
und gifte, man spekuliert mit nervöser erschöpfung und krankhafter
erregbarkeit. nie zuvor in der geschichte hat es eine solche räuberbande
gegeben. was immer von der inquisition und den jesuiten erzählt wird,
reicht nicht an eine solche virtuosität in der kunst, die makel adeliger
familien auszubeuten. und den händen dieser gauner ist die gesellschaft
von heute anvertraut! unter ihren händen formt sich das leben von
morgen!
ich aber hatte mir folgendes vorgenommen: ich wollte eine furchtbare anklageschrift
gegen die psychiater verfassen, ihre psychologie determinieren, ihr durch
den beruf verbildetes gewissen definieren, ihre macht zerstören und
sie der öffentlichen verfolgung ausliefern.
in dieser hinsicht konnte ich es nirgends besser treffen als in dem berühmten
haus waldensee.
(erschienen
1926; auf deutsch "der moloch", zurzeit leider vergriffen, soll
aber neuaufgelegt werden)
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