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schandfleck.ch_archiv/2002/nr.2
daniel costantino
über die demokratie
es gebe kein besseres politisches system, heisst es. kein gerechteres, keines, in dem minderheiten nicht auch rechnung getragen, konflikte nicht friedlich und schiedlich beigelegt, so konstruktive lösungen wie eben nur hier gefunden würden. ein uneinsichtiger, wer da nicht mitmache und schön abstimmen und wählen gehe, mehr noch, ein verantwortungsloser hund, denn damit helfe er gerade den falschen, den rechten, den ewiggestrigen, die dagegen prompt und zuverlässig den stimmzettel einlegten.

fragt sich, ob denn die rechten und falschen apriori undemokraten wären und wieweit es demokratisch legitim sei, sie sich mundtot zu wünschen. und wieso die selbstverständliche annahme, ein stimmabstinenzler hätte gerade im rechten sinne, links gestimmt und nicht ja gesagt, wenn die, die so reden und sprechen, verneint, nein eingelegt, wenn diese zugestimmt hätten. damit wäre ihre stimme also durch die gegenstimme aufgehoben, und man müsste doch gerade froh um die abstinenzler sein. überhaupt heben sich ja die meisten stimmen gegenseitig auf, gewinnen relativ knappe mehrheiten über fast gleich grosse minderheiten - und man hat den eindruck, wenns immer genau umgekehrt herauskäme, würde sich nichts von belang ändern im lande. es scheint, das system sei kaum das entscheidende, sondern die mentalität, die dahintersteckt und sich des systems bedient. ein menschenfreundlicher könig, warum nicht? besser als bush, berlusconi oder kommunistische apparatschiks doch allemal (demokratische wahlen gibt und gab es da übrigens auch).

doch eingefleischten demokraten kann man nicht so kommen, wie die erfahrung lehrt. sie beharren auf ihrem standpunkt, gott weiss warum.

gewiss sind dies die schlimmsten abenteurer nicht, sondern menschen, die eine friedlichere und gerechtere welt erstreben. nur wäre man als gestandener abstinenzler versucht, ihrem demokratie-optimismus entgegenzuhalten, mit der qualität des erreichten, dem geisteszustand der westlich genannten zivilisation stehe es nicht darum schon zum besten, weil sich eine gesellschaft demokratisch legitimiere. wenn sie korrupt ist, durchgeknallt, moralisch auf den hund gekommen, nützt auch das beste system nichts dagegen. wer im namen der demokratie, der menschenrechte undoder der freiheit kriege führt oder sie zu führen auch nur plant, jederzeit, das gewehr im schrank, auf dem sprung und bereit, dem gegner die zähne zu zeigen, vereinnahmt sie für seine diktatorische, menschenverachtende, verbrecherische gesinnung, wo er nicht aus lauter angst und dummheit einfach nachplappert, was andere, obere, vorbeten. abgesehen davon lässt sich qualität nicht durch kompromisse erreichen, gerade der kompromiss gesteht verschämt die einbusse zu; ob ein kompromiss trotzdem noch eine anständige qualität in sich birgt, hängt davon ab, inwieweit in der auseinandersetzung noch etwas riskiert, um etwas wirklich gerungen wird ausser, dass die kirche im dorf bleibe - ob überhaupt im ganzen spiel nicht mit gezinkten karten gespielt wird.

macht, privilegien, unterdrückung sind nicht eliminiert, weil die beherrschten und unterdrückten, die an kurzer leine gehaltenen sich scheuklappen anlegen und die realitäten schönfärben, gutschnorren oder gänzlich verkennen. es wäre zu fragen, weshalb diese untugenden dermassen grassieren. die christliche gehirnwäsche zweier jahrtausende erscheint als eine logische, wenn auch nicht ausreichende antwort. doch mit ihr erweisen sich heuchelei, verlogenheit und raffgier, aber auch der wahn des auserwähltseins, des überlegenheitsdünkels und der rigiden gedanken- und seelenkontrolle als viel prägendere faktoren unseres lebens denn so etwas wie "demokratische gesinnung".

volksherrschaft hiesse ja eigentlich, dass ein ganzes volk herrsche. worüber? über sich selbst. jeder über sich nun oder jeder über den andern? jeder über sich und nichts sonst - das wäre die anarchie, die auflösung aller herrschaftsstrukturen und des wortes herrschen selbst. so ist es ja keineswegs, also jeder über jeden. das könnte aber nur gutkommen, wenn keiner dem andern mehr zu befehlen hätte als dieser ihm. dies über unsere gesellschaft zu sagen, wäre idiotisch. ebenso trottelig, zu vermeinen, mit den alternativen ja oder nein stünde in der realen demokratie zur disposition, was die menschen wirklich haben möchten oder mindestens, was ihnen gut bekäme. sie haben einzig die möglichkeit, zwischen zwei stück schmierseife sich zu entscheiden. brot wird nicht verkauft, oder schokolade. bei wahlen, jenachdem, hundert stück schmierseife. wir dürfen eine davon auslesen, und so werden wir eingeseift. dann herrscht eine 50%plus-mehrheit über eine 50%minus-minderheit in dauernd wechselnden, sich aber aufs haar ähnelnden herrschaftsverhältnissen. und die seifenoper verkündet, es herrschten friedliche, freiheitliche und menschenrechtliche zustände.

der satz, jeder herrsche über jeden, bewahrheitet sich in trauriger weise. hoffnungsvoller erschiene der gedanke, dass sich herrschaftsverhältnisse und obrigkeitsdenken überhaupt erübrigten. demokratie ist ein sytem, dass anarchie, herrschaftslose zustände, geradezu ausschliesst, sogar noch ohne die zutaten des kapitalismus, des militarismus und des wirtschaftsregimes. wer demokrat sich nennt, muss wissen, dass er autoritären strukturen huldigt und einem kult der rechthaberei.

das kennzeichen der macht ist, neben dem fehlenden geistigen und moralischen rückgrat, die quantität: alles muss stetig wachsen, sich äufnen, zunehmen - das geld, die feinde, die siege, die erfolge, die sicherheit, die eigene stärke, die gefolgschaft, etcetera. jede nation scheint darauf erpicht, die beste zu sein, in allen möglichen belangen zu wachsen und zu erstarken, nicht mehr nur, an zahl zuzunehmen, weil sie soldaten braucht, sondern auch, damit die zahl der zu unterjochenden steige. am besten tarnt sich der tyrann, wenn es ihm gelingt, sein anliegen als das begehren aller oder doch sehr vieler auszugeben. wenn alle so laut die demokratie bejahen, ist seine rechnung aufgegangen, und er kann im stillen seiner sache walten, nirgends so unauffällig wie in ihr. es ist daher logisch, recht und ordnung schon unseren kindern einzubläuen, damit sie sich daran gewöhnen, dass überall herumkommandiert wird. der tyrann im versteck braucht sich nicht selbst mehr die hände schmutzig zu machen, "das volk" erledigt dies nun für ihn.

in der tat herrscht ja im realen demokratischen alltag der chef über den arbeiter, und er verdient auch entsprechend mehr und alle findens gerecht, der schweizer über den ausländer, und er besitzt entsprechende vorrechte und keinen scherts, der reiche über den armen, und er geniesst die bessere reputation und die mittellosen möchten auch soweit kommen in ihrem tristen leben; restriktive vorschriften über benimm, verhalten und moral machen, siehe christentum, dass die unterdrückten die macht auch gegenseitig, untereinander, ausüben, vielleicht sogar in höherem masse, als es von oben nach unten geschieht. macht erscheint wie ein sich nach allen seiten ausdehnendes, raumsuchendes und -findendes universum im kleinen und im grossen. und der mächtigste als der grösste untertan, weil er durch eine ochsentour diese strukturen am meisten verinnerlicht und überdies am meisten zu verlieren hat.


heilige kuh demokratie: nirgends muht sie so laut und ausdauernd wie hierzulande. aus griechenland stammend, ist sie vor über 700 jahren eingewandert und hat sich auf der rütliwiese niedergelassen und dort ratzekahl alles abgeweidet. nach langen streif- und herdenzügen ist sie inzwischen in allen kantonen und gemeinden beheimatet und hat auch hier alles plattgetrampelt, kahlgefressen und niedergemacht. und sie versammelt sich mit ihrem gefolge gar auch viermal jährlich in bern, allwo sie in sogenannten sessionen (lat. auf dem melkstuhl sitzen) gründlich gemolken wird. und weil sie schon alles kahlgefressen hat, wachsen längst bei uns keine bäume mehr in den himmel. die heilige kuh demokratie ist das symbol unserer freiheit, unserer menschenwürde und -rechte. man hat ihr zu danken. es wird um schonendes anhalten gebeten, wenn man sie auf der strasse trifft. da sie ein wiederkäuer ist, kaut sie auch seit jahrhunderten dieselben parolen. biologisch ist sie der gruppe der schlachtviecher zuzuordnen und hat deshalb noch auf jedem schlachtfelde gebrüllt. ihr heldenreigen beginnt mit den alten eidgenossen, führt auf die dampfenden schlachtfelder bei laupen, sempach, näfels, grandson und murten, ohne mit dem schwanz zu wedeln, dass die gewinner noch übler über die neuen untertanen herzogen als der verjagte adel, der verscheuchte klerus, und bricht bei marignano unvermittelt ab. dann verdunkelt sich der kuhhorizont: um die kuh wird es still und stiller. über die schamlosen raubzüge, über die unterdrückung der leibeigenen, über die furchtbaren kämpfe des 17. und 18. jahrhunderts geht sie in raschem galopp hinweg, um mit kühner chuzpe eine gewagte verbindungslinie zwischen mytenverklärten freiheitskämpfen und unserer modernen staatsführung herbeizumuhen.


demokratie: das beste vom schlechten, so irgendwie. traurig, wenn einem nichts besseres mehr einfällt. mir fällt dazu die frage ein, weshalb es denn einen staat brauche, wieso denn geld, das man nicht fressen kann, industrielle produktion, die uns einspannt als wie die ochsen vor den karren; warum gerade das schweizervolk zuvorderst von freiheit faselt und von eigenheim und karriere träumt, ja, träumt. wieso die boulevardmedien am meisten zulauf haben und wir uns noch freiwillig mit dem schrott überhäufen, noch selbst vom dreck saufen, durch den man uns zieht. irgendwie ist das die mentalität von gefangenen, die sich ein wenig die wärter aussuchen dürfen, die sie bewachen. offenbar will jeder selber auch mächtig sein, wenigstens potentiell, wenigstens dazugehören und mitgemeint sein, wenn die konzerne milliarden scheffeln, an etwas teilhaben, was ihn in der glorie der macht überlebt. schade eigentlich, denn keiner kann etwas mitnehmen, wenn ihm die stunde schlägt. am erfreulichsten sind da noch die kinder drauf, solange sies noch sind; kein wunder, dürfen sie nicht mitbestimmen.


müde demokraten, lese ich gerade in einer überschrift zu den französischen wahlen (1. wahlgang). wahlabstinenz und entmachtung der politik.

wieso nicht? ich glaube, in der wirklich guten gesellschaft gibt es keine politik mehr.

nieder mit der politik!

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