news ¦ archiv ¦ forum ¦ kontakt ¦ literatur ¦ shop ¦ links
schandfleck.ch/2007/oktober
david manuel kern
 

Abschweifungen in die Religion I Prolog

 

"Die Politik hat Tausende hingemetzelt, die Religion Zehntausende."
(Sean O'Casey)


Da im Hintergrund Miles Davis' Trompete wie ein wohltuender Bach fließt, der Sonntag wie selten doch einen guten Anfang macht und mir meine Hitlerbiographie zu Kopfe steigt, schreibe ich nun ein paar Worte, ob notwendig oder nicht, sinnvoll, aufbauend, oder nicht, einen ominösen Gegenstand betreffend, der sich vom a-priori zum a-posteriori befähigte, ohne dass ein Zutun notwendig gewesen wäre. Doch ich komme vom Weg ab, durchschleiche unmerklich die Gefälle des Metaphysischen und zwinge mich zurück ins Diesseits, auch wenn das Jenseits mehr zu offenbaren weiß, wie man sagt. Drum besuche ich plötzlich erleuchtet noch schnell den Gottesdienst, spaziere in den Ortskern, wähne mich im Zweifel und bemerke erleichternd seufzend mein zeitliches Verpassen der Messdiener, Ministranten, Jungscharführer, Pfaffen, aller vor Frömmlichkeit triefenden Menschen. Also doch statt Erleuchtung Erleichterung. So wieder an meinem Schreibtisch, in der Küche, im Schlafsaal, Miles Davis' Trompete spielt beharrlich weiter, ich mache einen letzten Blick in die herbstliche Kulisse und blinzle der fadigen Sonne in die Augen. Ich halte inne und horche auf: Bill Evans am Klavier, Dizzy Gillespie an der zweiten Trompete, Milt Jackson am Vibrafon; jetzt kann mich nichts mehr erschüttern. Ich aber denke nach über meine Schlagfertigkeit, die ich nie besaß und derer habhaft zu werden mir stets misslang. Seltsam, Schlagfertigkeit wurde mir bisweilen selten attestiert, aber ich sehe mich ja nicht von außen, das Bild meiner Selbst für den Zweiten, wie mag das wohl sein, frage ich mich und denke an Sartre, der auch keine Antwort hat. Es führt zu nichts und ich lasse meine spärlichen Hirngespinste weiter schweifen, so lange sie nicht vom unablässig triebhaften Unverständnis abgelenkt werden. Ich denke mir, der Sarkasmus als allumfassender Schutz vor dem Anderen; warum ist das nicht Sartre eingefallen. Wie die Brille, die nicht nur vor der Sonne schützt. Jetzt Benny Goodman, etwas zu laut, ich stelle es um, Big Band mochte ich noch nie. Das klassische Trio, ja, leise, gedämpft, zurückhaltend. Bass und Schlagzeug und dann kann kommen was will. Aber ich denke weiter, so weit es mir erlaubt ist. Polemik also. Bin ich ein Polemiker, nein, denke ich mir, ich bin nicht interessiert an Polemik, ich bin interessiert an der Erweiterung der Interpretation der Wirklichkeit. So könnte man es ausdrücken. Aber ich lass es lieber. Dafür einen Blick in den Garten, der langsam stirbt und sich nicht schert um den Rest, wie die Vögel. Dann überlege ich blitzartig: Wem verdanke ich mein Ich, meine Entwicklung, meine Gedanken. Eine schwerwiegende Frage, sie sollte mit Vorsicht beantwortet werden. Canetti bildet sich ein, ich hätte was von ihm, nicht weniger Dostojewski und Franz Liszt. Ein kurzes Auflachen genügt, und ich sehe bereits das Sterben der ersten Wespen. Unwillkürlich muss ich den Kopf schütteln und mir eine Zigarette anzünden. Was tröstet uns denn. Vielleicht daher der Hang zur Sucht, das Klammern, das oftmals unerbitterlich endet. Ja ja die Zeit vorher, wie ein alter abgekauter Traum, "sich lernend verändern", sagt Heller, ich glaub ihm nicht, mein Hinterlappen schon eher. Soll ich wieder von der Religion anfangen. Dieses Geschwür der Menschen, in Dummheit, Angst und Brutalität geboren, psychologisch mit einem Satz erklärt und ihrer Glaubwürdigkeit entzogen; jener Satz könnte folgendermaßen lauten: Religion als Nebenprodukt normaler psychologischer Neigungen. Aber das ist kein Satz, es fehlt das Prädikat. "Die Tatsache jedoch, dass es ein Bedürfnis nach Religion gibt, dass Religion Trost, Glück und ewiges Leben verspricht und sich manchmal gut anfühlt, beweist keineswegs und ist nicht einmal ein Indiz dafür, dass Gott nur eine Illusion sei", sagte einmal ein gescheiter Mensch und mein Nachbar, der Psychiater ist, erklärt ihn für verrückt. Ich aber enthalte mich meiner Worte, kann keine Klarheit mehr erkennen, keinen Standpunkt, ohne dessen Erscheinung eine Auseinandersetzung naturgemäß unmöglich ist, wie Bernhard sagen würde. Da fällt mir George Bernard Shaw ein: "Die Tatsache, dass ein gläubiger Mensch glücklicher ist als ein Skeptiker, trägt zur Sache nicht mehr bei als die Tatsache, dass ein betrunkener Mensch glücklicher ist als ein nüchterner." Auch so ein Gedanke. Oder betrachtet man es biologisch: "Die natürliche Selektion stattet das Gehirn eines Kindes mit der Neigung aus, den Eltern bzw. Stammesältesten alles zu glauben, was sie sagen, um so bestmöglichst ihr Leben zu sicher." Die Gefährlichkeit der Religion; ich sinniere. Vielleicht: "Der Nationalsozialismus war eine Religion. Glaubenssehnsucht, die die Kirche nicht mehr erfüllte, Glaubenskraft, die die Kirche nicht mehr band, sind in ihr eingeflossen.", das war Carl Friedrich von Weizsäcker. Oder auch: "Gewalt unter Gott war stets höher als ohne", das Michel Onfray. Aber lassen wir das Zitieren, ich muss meinen eigenen Kopf gebrauchen. Ich sehe nochmals aus dem Fenster. Religion, das treibt meinen niederen Blutdruck in die Höhe. Nein, ich lass es lieber. Oder doch, hier hab ich noch was: "Das Recht zu bestrafen geht auf die Religionen zurück. Gott bestraft Adam und Eva bzw. den Menschen. Anstatt Hilfe gibt es Bestrafung, man denke an Pädophilie.", "Religion? Glaube, Gehorsam, Unterwerfung.", "Die Folgen der Erbsünde: Hass auf Frauen und alles Fleischliche, Schuldgefühle, Verlangen nach Reue und Wiedergutmachung, weg von der Wahrheit in die Kritiklosigkeit.", zugegeben, das war jetzt von mir. Oder auch: Index der Kirche: Montaigne, Sartre, Pascal, Descartes, Kant, Spinoza, Locke, Hume, Rousseau, Freud, um nur einige zu nennen. Kein Hitler. Oder auch: Die Bibel als Produkt aus Neurosen. Oder weiter: Aus der Impotenz des Paulus entspringt Hass auf alles Fleischliche und Sexuelle, Folgen: Zölibat, Keuschheit, Abstinenz. Die Zehn Gebote: "Du sollst nicht töten", gilt diese vermeintliche Ethik jedoch ausschließlich innerhalb der Glaubensgemeinschaft; man könnte auch von den Anfängen der Rassentrennung sprechen. Bibel, Thora, Koran als Anstifter zu Mord, Rassismus, Gewalttaten. Wer geht noch in die Kirche? Nationalsozialistische Reichskristallnacht als moderne Form der Tempelaustreibung durch Jesus. Demokratie lebt von ständiger Bewegung, Veränderungen, vertraglichen Vereinbarungen, fließender Zeit, Dynamik, Dialektik, sie atmet durch Einfluss lebendiger Kräfte, Verstand, Dialog, kommunikative Zusammenarbeit, Diplomatie. Theokratie führt zu Bewegungslosigkeit, Irrationalität, Tod.
Vielleicht doch noch ein Zitat: "Religion eignet sich hervorragend dazu, einfache Leute ruhig zu stellen." (Napoleon) Oder: "Religion gilt dem gemeinen Mann als wahr, dem Weisen als falsch und dem Herrscher als nützlich." (Seneca)
Ich lehne Religion ab.
Miles Davis spielt nicht mehr, schüttelt den Kopf, hat mich verlassen. Der Herbst ist gegangen und mit ihm die toten Tiere.

news ¦ archiv ¦ forum ¦ kontakt ¦ literatur ¦ shop ¦ links
nach oben >>>