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schandfleck.ch_archiv/2004/juli
johannes künzler

gegen den staat als mytos und die geistige achtungsstellung

harry pross: lob der anarchie. erfahrenes und erlesenes. textband anlässlich des 80. geburtstages von harry pross. hg. von bernd kramer, zusammengestellt mit dem autor. berlin: karin kramer verlag 2004.

ganz am schluss, im nachwort, stehen die worte, die als motto für das ganze buch genommen werden dürfen - dabei den titel aufnehmend:
"anarchie ist ein glückliches moment der freiheit, die substanz menschlicher würde gegen die arroganz der macht zu behaupten. deshalb verdient sie lob."
und ganz im sinne der umwälzung und des stetigen von-hinten-aufrollens spricht harry pross in all den hier versammelten texten weniger von dem, was "anarchie" bedeutet oder bedeuten könnte, aber umso mehr davon, was der anarchie entgegensteht, was sie nicht meint. anstelle der herrschaft der definition tritt so die möglichkeit/freiheit zur diskussion, was wohl in erster linie vom umstand abhängt, dass im vorliegenden buch essays und reden von 1968 bis 1983/2003 zu verschiedenen temen unter einem titel präsentiert werden.

das knapp 200 seiten starke bändchen hat vier kapitel. das abschliessende nachwort "zeitgenosse etienne" bespricht das werk "diskurs über die freiwillige knechtschaft des menschen" des französischen dichters und politikers etienne de la boetie (1530-1563), dem pross eine durchaus anarchische grundhaltung zuschreibt, habe dieser doch das gängige muster von homer, platon, aristoteles, "dass ein führer, steuermann, ein archos als architekt den bewegungsraum der ordnung vorgibt", umgekehrt. das schlimmste sei, so boetie, dass sich die menschen auch noch etwas darauf einbilden, untertanen zu sein, zu dienen, wie es ja schon ihre väter getan hätten. doch pross bleibt auch hier nicht in einem jahrhundert stecken, sondern greift über die zeiten hinweg, landet unvermittelt im heutigen amerika (samt "mr. bush") und schlägt den bogen der kritik von der freiwilligen knechtschaft zur willig entgegengenommenen unterdrückenden maschinerie von fernsehen, radio und presse im verband mit hochgerüsteten miltärapparaten.
pross, der sozialwissenschaftler und publizist sowie ehemalige professor an der freien universität berlin und dozent an der journalistenschule st. gallen, übt über das ganze buch hinweg immer wieder scharfe medienkritik, besonders auch im ersten kapitel, das mit "im bonner staat erlebt" überschrieben ist. presse, funk und tv, im hintergrund die ‚offizielle politik', betrieben anarchistenhetze - wie weit diese bereitschaft ging, anarchie, anarchisten zu diffamieren, beschreibt pross am beispiel der baader-meinhof-truppe, deren mitglieder beharrlich als "anarchisten" bezeichnet wurden, obwohl sie kommunisten waren ("rote armee fraktion", berufung auf mao und dessen guerillataktik). das andere zentrale tema des ersten teils ist die frage nach rolle und funktion des staates. weiter bezogen auf die verhältnisse in der brd der 60er- und 70er-jahre kritisiert harry pross, dass gerade auch hier die verfassung hinter ein mytisches staatsgebilde getreten sei, was je nach politischer gesinnung zu ungleicher rechtsbehandlung von bürgerinnen und bürgern führen konnte. bei kant beginnend zeichnet pross den weg des staasbegriffes bis zu dessen verklärung als idee gottes (hegel) nach, mit der konsequenz, dass das volk sich in absoluter staatstreue zu üben und sich als organ des staates zu begreifen habe, nicht etwa umgekehrt - wie noch bei kant -, dass der staat als organ des volkes fungiert.
"weimarer lektionen" heisst das zweite kapitel, und es beginnt mit einer geschichts- und filosophie-lektion. etwas gar wild springt pross von namen zu namen und von problem zu problem: hunderte von figuren treten auf, dutzende von temen wechseln sich ab. als grosse linie wird dennoch erkennbar, wie sich seit dem 18. jahrhundert aus der verbindung von ökonomischen und biologistischen teorien militarismus und nationalismus als alles beherrschende kategorien aus dem glauben an den konkurrenz-gedanken herausgebildet haben. daran scheiterte nach pross die weimarer republik genauso, wie aus demselben grund bereits der 1. weltkrieg ausbrach. die ideen der anarchisten in bayern hatten keine chance, weil die geistige achtungsstellung schlicht in zu vielen körpern steckte. wer schon nur leise zweifel äusserte, wurde plattgewalzt. dagegen sagt pross: "der anarchismus hat keine andere aufgabe, als zu erreichen, dass der kampf des menschen gegen den menschen aufhöre."
in den beiden weiteren kapiteln lernen wir verschiedene figuren und ihre ideen kennen. unter dem titel "etik und mystik" gustav radbruch, gustav landauer, martin buber und albert camus; unter der überschrift "umstände und kunst als kunst" leo tolstoi, n. g. tschernyschewski, herwarth walden sowie heinrich heine. pross spricht hierbei eher selten und wenig exlplizit von anarchisten und anarchismus, er präsentiert hier menschen - leider kommen frauen nur am rande vor! -, die ihr denken weg von herrschaft und konkurrenz auf solidarität und befreiung lenkten.
interessant scheint mir auch der umstand, dass harry pross bemüht ist, geschichte, entgegen der herkömmlichen weise, vor allem aus der verlierer-perspektive zu schreiben. "geschichte" und die sie prägende begriffe brechen so aus "der erzählung dessen, was für überliefernswert gehalten wird" aus und erhalten in vielen fällen erst dadurch wieder ihre primäre bedeutung.

es wäre gar hart, die textsammlung ein sammelsurium zu nennen, denn die fülle an gedanken, die hier auf engstem raum zusammengefasst sind, ist schwäche und stärke zugleich. schwäche in dieser hinsicht, dass filosofiegeschichtlich nicht so beschlagene leserinnen nicht bloss eine unmenge von aspielungen verpassen, sondern auch schlicht und einfach den faden verlieren können. umgekehrt regt das buch zum weiterlesen und weiterdenken an, eine stärke, die direkt dem anarchismus-nichtprogramm entspringt. sein lexikon-charakter (vgl. namenregister) bietet zudem die möglichkeit des nachschlagens.
leider haben sich einige druckfehler eingeschlichen, was das lesen zuweilen erschwert. im grossen und ganzen ist die lektüre aber spannend, teilweise sogar vergnüglich, blitzt doch da und dort der sarkasitsche witz der satire von harry pross deutlich hervor, sodass trotz trüber aussichten doch auch ein befreiendes lachen über die dummheit der arroganz der macht möglich scheint.


(der artikel ist in der juni 04-ausgabe der roten revue erschienen)

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