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schandfleck.ch_textkritik/2007/november
daniel costantino
 

An baches ranft

An baches ranft
Die einzigen frühen
Die hasel blühen.
Ein vogel pfeift
In kühler au.
Ein leuchten streift
Erwärmt uns sanft
Und zuckt und bleicht.
Das feld ist brach ·
Der baum noch grau ..
Blumen streut vielleicht
Der lenz uns nach.

weniges im erdenleben, was mich augenblicklich für sich gewinnt wie dies gedicht: verblüffend ästetisch, ungemein eingängig, ebenso sorglos wie geometrisch streng, eine waghalsige eigenwilligkeit. der verstand, ein nüchterner, sittenstrenger bursche, bringt aber einwände vor, warnt, allzu instinktive schwärmerei mache blind und dumm. die überzählige silbe der zweiten zeile, sagt er. der vogel, der wie alle andern auch nur pfeift. das etwas summarische, etwas klinische zucken und bleichen. im ganzen doch ein paar abstriche. er frage sich also, ob es klug von mir sei, mich mit meiner frischen liebe in der öffentlichkeit zu zeigen.
aber ja. rosten können meine gelenke. nicht meine seele. und niemals meine intuition. das gedicht ist ein wurf. verführerisch. jugendfrisch. jede sünde wert. die leute sollen reden.
das erste reimpaar schon verdient applaus. herzlichen, munteren. die struktur, man merkts schon da, verlangt äusserste disziplin, knappheit und treffsicheren reim. zum scheine entzieht sich das lied der erwartung, um hinterrücks mich einzufangen und schelmisch aufzuziehn. das hättste nicht gedacht! ein kabinettstück dieses reimschema, mein applaus schwillt an. alles fügt sich aufs trefflichste. ich bin überrumpelt.

man beachte die gesamte rytmische gestaltung in folgender zeilenaufteilung:

An baches ranft
Ein vogel pfeift
Ein leuchten streift
Das feld ist brach
Blumen streut vielleicht
Die einzigen frühen
In kühler au.
Erwärmt uns sanft
Der baum noch grau ..
Der lenz uns nach.
Die hasel blühen.

Und zuckt und bleicht.

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perfekte, schlanke, kühn konzipierte konstruktion. die kleine zäsur zwischen zweitem und drittem takt der ersten zeile, vor der dritten zeile im gedicht. die erstaunliche wirkung des eigenwillig gesetzten reims, murmeln und nachmurmeln eines kleinen baches, der lautmalerische z (einzigen; zuckt; lenz), der herausragende klang frühen-blühen, aber auch die färbung brach-(baum)-grau, die verlebendigung pfeift-streift, plötzlich erscheint alles kühle, distanzierte des gedichtes natürlich, organisch, fänomenal. und die unnachahmliche gebärde der letzten zwei zeilen, ausblick, hommage, epilog - ein kunstwerk. ein grosses kleines gedicht.
geschrieben wurde es im jahre 1907. sein verfasser heisst stefan george (1868-1933).

Nebel

Ein Nebel hat die Welt so weich zerstört.
Blutlose Bäume lösen sich in Rauch.
Und Schatten schweben, wo man Schreie hört.
Brennende Biester schwinden hin wie Hauch.

Gefangne Fliegen sind die Gaslaternen.
Und jede flackert, daß sie noch entrinne.
Doch seitlich lauert glimmend hoch in Fernen
Der giftge Mond, die fette Nebelspinne.

Wir aber, die, verrucht, zum Tode taugen,
Zerschreiten knirschend diese wüste Pracht.
Und stechen stumm die weißen Elendsaugen
Wie Spieße in die aufgeschwollne Nacht.

im jahre 1913 hat alfred lichtenstein (1889-1914) dieses bildhafte gedicht geschrieben, mit farben, tönen, blitzen komponiert, dessen rahmensprengende intensität von grosser, feuriger ausdruckskraft und sinnlicher höchstleistung zeugt. gewagte, gelungene metafern, opulente palette starker reize und sprachliches konzentrat befruchten geist und fantasie in hohem masse.
geballte schreckensvision die erste strofe, stumpfes leben, ausgelaugt, abgebrannt, nichtig als ob nie gewesen (blutlose bäume lösen sich in rauch), trostlose, so gut wie erstickte klage namenlos verzweifelter (schatten schweben, wo man schreie hört), nur ihr wehe ist je gewesen und peinigt, was ausserdem am leben, hungerleidig, liebesdurstig, machtzerfressen noch krebst und kriegt und krepiert, ob tier, ob mensch, widerrufne kreatur, isolierte seelen für sich alleine, brennende biester, schwinden hin wie rauch.
keine frage, die gefangenen fliegen, flackernden gaslaternen der zweiten strofe sind wir, zitterndes leben, sinnloses wühlen, flüchtiger spuk, ist die vage, bedrohte, preisgegebne existenz, die kreatur an sich, ganz gleich, ob vom kriege, vom hunger, vom tode durchs alter vernichtet, alles ist zur interpretation zulässig hier, über alles wird der stab gebrochen, leben heisst wahrer gesagt unentwegt gequält zugrundegehn. die erbärmlichkeit des aussichtslosen kampfes, der diabolisch inszenierten plage wird noch unterstrichen durch die abscheulichkeit des mondysmbols, widerliche, lüsterne, mordende macht, der schliesslich alles hienieden sich beugt.
gefangen. geschunden. gemartert. mit stumpf und stiel verschlungen. welche darstellungskraft, welch ein abgesang!
obwohl wir namentlich als menschen erst in der dritten strofe ins spiel kommen, stellvertreten durchs pronomen, halte ich es nicht für verfehlt, das oben gesagte mit allen bezügen zum menschen stehenzulassen. wir sind keine arglosen zaungäste und üben uns im beschauen des schauspiels natur. eine retorische geste zur unterstreichung, das wir, nichts weiter. die verruchtheit, die verstummung, die elendsaugen haben wir ja schon eingepflanzt und tragen die erkenntnis der zwei strofen seit je mit uns herum.

es sind andere akzente möglich, nuancen, standpunkte, ein gutes gedicht zu interpretieren. es spricht für ein kunstwerk, dass es in mannigfachem zusammenhange steht. da wäre erstmal die konkrete ebene, die schilderung eines nebels und die umgebung dazu - man kann sich das alles sehr plastisch und ausgesprochen lebhaft vorstellen. durchaus ein naturgedicht. man kann und darf den 'nebel' politischer deuten, als ich es getan, zeitbezogen, biografisch, gesellschaftskritisch - meiner auffassung nach wäre es jedoch falsch, zum kriterium heranzuziehen, ob einem zum beispiel lichtensteins 'nebel' weltanschaulich in den kram passt oder nicht oder ob er ausgewogen erscheint, das positive mit in die waagschale wirft, weissnichtwas mitbedenkt, -beteuert, -beweist. bedeutet das wort, vorgeblich objektiv, doch die zugrundeliegenden kriterien verschleiernd, meist nichts anderes als ausgelogen. man sage mir nie: zu pessimistisch oder dergleichen, wenn es um die beurteilung der künstlerischen qualität geht. solches hat einen künstler überhaupt nicht zu kümmern. er soll und darf keinem publikum und keiner gesellschaft nach dem munde reden. lichtensteins gedicht ist dank der sprachlichen kraft, wegen der fülle an plastischem darstellungsvermögen seines autors und seiner fähigkeit, ebenen des fühlens und des denkens zu öffnen und ineinanderzuweben, seiner ungeheuren transzendenz, ein sprachkunstwerk, also ein lebewesen - facettenreich und vielgestaltig, wandelbar, das sich, wie anderes leben auch, einer festgestanzten, fürallemalrichtigen, doktrinären zuschreibung entzieht.

Erinnerung

Und du wartest, erwartest das Eine,
das dein Leben unendlich vermehrt;
das Mächtige, Ungemeine,
das Erwachen der Steine,
Tiefen, dir zugekehrt.

Es dämmern im Bücherständer
die Bände in Gold und Braun;
und du denkst an durchfahrene Länder,
an Bilder, an die Gewänder
wiederverlorener Fraun.

Und da weißt du auf einmal: das war es.
Du erhebst dich, und vor dir steht
eines vergangenen Jahres
Angst und Gestalt und Gebet.

ich habe eine etwas zwiespältige beziehung zu diesem gedicht rainer maria rilkes (1875-1926), publiziert im jahre 1902. seinem charakter gemäss treibt es auf den punkt zu, der die welt in angeln hält, sucht essentielles, gültiges, bedeutungsvolles zu erreichen.
es beginnt sehr flüssig, eingängig, kommt ohne erkennbaren aufwand gleich zum wesentlichen:

Und du wartest, erwartest das Eine,
das dein Leben unendlich vermehrt;

mit wenigen worten ist die atmosfäre geschaffen, der gegenstand des gedichts in bleibende form gefügt, eine spannung erreicht und gar noch gesteigert durch den präzisierenden, verstärkenden zusatz in der ersten zeile: erwartest das eine. das ist ebenso musikalisch wie gross. handschrift eines dichters.

das Mächtige, Ungemeine,
das Erwachen der Steine,
Tiefen, dir zugekehrt.

das mächtige, ungemeine: gut, trefflich. das erwachen der steine fällt dagegen schon etwas ab, eine spur zu gesucht. leicht unpassend. möglicherweise als wendung auch schon etwas abgegriffen, doch akzeptabel noch immerhin. möge also das erwachen der steine mein innenleben bereichern. es steht einfach introspektion etwas holterdipolter einem naturwunder gegenübergestellt, ohne dass die ebene tatsächlich wechselt und das folgende den übergang unterstriche. die wendung: tiefen, dir zugekehrt macht meines erachtens viel vom hervorragenden anfang zunichte. du erwartest tiefen, dir zugekehrt - naja. kein berauschendes deutsch jedenfalls. obwohl die wendung durchaus ins bild passt, es verdeutlicht, anders als das steinerwachen aussenwelt und innenleben widerspiegelt, miteinander verwebt - das angehängte partizip ist unschön und reichlich unpoetisch, prosa-aritmetik.
gute, im gehalt etwas leichtere zweite strofe, erzählende ebene. aber gross ist sie nicht:

Es dämmern im Bücherständer
die Bände in Gold und Braun;

wirkt eine spur zu aufgezählt, zu leichtfüssig plötzlich, was dem charakter des gedichtes widerspricht, etwas plattes, poesieloses macht sich breit, als wär die stelle tante irmas hausgedichten entnommen. ich sage: eine spur! diskreditiert ist das gedicht damit nicht, doch kann von einer grossen zweiten strofe bestimmt nicht gesprochen werden. die müsste tadellos sitzen. auch die gewänder der wiederverlorenen fraun: gutgut, ganz nett, mehr nicht.
(ich werde mir den heiligen zorn aller rilke-verehrer zuziehen. er ist ein gott und darf nicht geschändet werden. und noch seine fadesten zeilen verdienen knickse!)

Und da weißt du auf einmal: das war es.
Du erhebst dich, und vor dir steht
eines vergangenen Jahres
Angst und Gestalt und Gebet.

ich anerkenne hingegen die grösse der letzten strofe. sie ist unaustauschbar, gedankenreich, erinnerungswürdig. da ist etwas gelungen, was mit jedem recht zeitlos genannt werden kann.
zwar schludert auch ein dichter hin und wieder, kocht nur mit wasser. nicht jeder einfall ist bedeutend, nicht jeder reim eine legierung zweier wertvoller gedanken. aber eine solche strofe bringt eben nur er hin, sie könnte keinem dilettanten je aus der feder fliessen.
warum kreide ich rilke unzulängliche wendungen an, zeihe ihn eines mitunter poesielosen vokabulars, halte seine 'erinnerung' doch für im ganzen missglückt, rede aber von 'baches ranft', georges gedicht, als von einem wurf, einem grossen gedicht?
nun, 'baches ranft' gibt sich klein, als argloser leser tritt man ans gedicht heran. man kommt garnicht in versuchung, mit rollenden augen eine offenbarung zu erwarten, genialität zu inhalieren wie ein rauschgiftsüchtiger. die poetische wirkung des gedichts erweist sich erst nach dem ersten, zweiten lesen. es verblüfft sozusagen dadurch, dass sie trotzdem zustandekommt. ein sehr konkretes, greifbares, zum nachahmen einladendes wortkunstwerk. es ist immer ein kriterium für mich, ob anspruch und wirklichkeit eines textes übereinstimmen oder auseinanderklaffen, ich messe den autor auch daran, ob er seine ambitionen einlöst oder verspielt. 'baches ranft', und das ist nun eine seltene sache, übertrifft jede erwartung, löst einen anspruch ein, von dem ich erst hintendrein begreife, dass er überhaupt gestellt worden ist. eine geniale nasführung.
indes die 'erinnerung' rilkes wie ein patron mit grossen, majestätischen schritten daherkommt, die denkeslast des ganzen abendlands auf dem breiten buckel. da hege ich nun die grössten erwartungen, wäge die funkelnde gabe nach gran und gramm, vergleiche, bedenke, seziere. und bin enttäuscht zu merken, dass beim hobeln späne fliegen.

Sehnsucht

Ich ging den Weg entlang, der einsam lag,
Den stets allein ich gehe jeden Tag.
Die Heide schweigt, das Feld ist menschenleer;
Der Wind nur weht im Knickbusch um mich her.

Weit liegt vor mir die Straße ausgedehnt;
Es hat mein Herz nur dich, nur dich ersehnt.
Und kämest Du, ein Wunder wär's für mich,
Ich neigte mich vor dir: ich liebe dich.

Und im Begegnen, nur ein einzger Blick,
Des ganzen Lebens wär er mein Geschick.
Und richtest du dein Auge kalt auf mich,
Ich trotze Mädchen dir: ich liebe dich.

Doch wenn dein schönes Auge grüßt und lacht,
Wie eine Sonne mir in schwerer Nacht,
Ich zöge rasch dein süßes Herz an mich
Und flüstre leise dir: ich liebe dich.

ein gutes gedicht ist ein beitrag zur wirklichkeit. die welt, solcherart bereichert, nicht mehr, die sie war. was für zeiten damals, 1883, als detlev von liliencron (1844 - 1909) das werk publizierte!
bitte sehr: welch ein ausbruch! und so geschliffen! ich bin sehr berührt. ganz ehrlich. und ganz persönlich. ein schatz geborgen, von feinster künstlerhand! wunderschön, nicht? wie makellos das versmass, schon an und für sich kunst, kreation, gestalt... und ein humor, so recht fürs volk verständlich, gell? diese modernen mediokren künstler seit dazumalen, dichterlinge, tintenpisser! und heute noch, heute noch, zeitlos gültig, welch ehrliches gefühl, welch bezauberndes sentiment! und ich brauche dazu auch garnicht mehr zu sagen, würde es zerreden, zertreten, schweige zur hochsensiblen zweiten zeile der ersten strofe, in verehrung, stummer verehrung, schweige wie die heide und das menschenleere feld, aus pietät, versteht sich, grossem respekt, kein kommentar zu sämtlichen zweiten zeilen, ich wäre ihrer garnicht würdig, stümper, leser, wicht, es steht ja alles schon da, viel besser da, als ichs je könnte, und doch überträgt es sich sofort, aufderstelle, jedem laien, laffen, dilettanten frommer seele, sieht ein jeder, wie stümperhaft die schrecklichen schlager dagegen sich reimen heutzutage, ich neige mich vor dir, o gedicht, neige und schweige, wahrlich, ein hochwillkommen, sonne mir in schwerer nacht!
ein gutes gedicht bedarf keiner interpretation und keiner klärenden worte. passende bildersprache. ehrliches gefühl. beängstigend schwindelfreie bilder. welcher lesepöbel könnte sich verschliessen?

wie schade, eigentlich: heute verändert höchstens noch terror die welt. wer den kalender nine/eleven bestimmt, sammelt die meisten skalps. und wers mit der kunstrezeption tut, die dümmsten schafe.

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