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schandfleck.ch_textkritik/2006/februar
david manuel kern
 

Martin Walser und der Antisemitismus

Martin Walser hat ein Buch geschrieben, das noch vor seinem Erscheinen des Antisemitismus angeklagt wurde. Die Feuilletons großer renommierter deutscher Zeitungen waren gefüllt mit zuvor unveröffentlichten Vorabdrucken, die Kritiker und Literaturkenner konnten zwecks weggebliebener Luft die Münder nicht mehr halten. Es handelt sich um Martin Walsers zweitausendundzwei erschienenen Romans Tod eines Kritikers, in dem der vermeintlich Tote eine nicht wegzudenkende Ähnlichkeit mit dem deutschen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki besitzt. So beklagte sich Jan Philipp Reemtsma in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über ein im Buch herrschendes "Weltdeutungsmuster", das von "latentem Antisemitismus" nur so strotze. Die Beschreibung eines "geilen Juden, der Macht ausübt, die zu haben er nicht legitimiert ist" lasse ihn vor den Kopf stoßen. Er meint, die Figur, die unverfroren an Reich-Ranicki denken lässt, lebe nur aus ihrem Beleidigungs- und Skandalwert. Ulrich Greiner von Der Zeit schrieb, der Roman sei zwar nicht antisemitisch, doch wäre er "besser nicht geschrieben worden". Tod eines Kritikers, "eine Mischung aus Satire, Pamphlet und Kolportage", sei stellenweise scharfsinnig, überwiegend aber abgeschmackt und rachsüchtig. Doch die antisemitischen Sätze würden allesamt von verächtlichen Figuren hervorgebracht. Eine Juden-Debatte sei laut Greiner nicht aus dem Buch, sondern aus der Handhabung der gesellschaftlichen Diskussion hervorgegangen: "Die Beteiligten haben unter Missachtung der moralischen Hygiene und zwecks Mehrung ihrer medialen Macht, die sich darin ausdrückt, an der Spitze des Romans zu stehen, das Antisemitismus-Spiel gespielt. Es ist ein schmutziges Spiel." Ein anderer, ebenfalls in der FAZ gedruckter Artikel von Frank Schirrmacher, konstatierte in Zusammenhang des Romans schlicht eine "Mordfantasie" über den ehemaligen FAZ-Literaturchef Reich-Ranicki und enthalte zudem zahlreiche "antisemitische Klischees". Joachim Kaiser von der Süddeutschen Zeitung dagegen fand gute Worte: Tod eines Kritikers enthalte keine "antisemitischen Äußerungen", vielmehr entdecke er im Roman einen "beschwingten, persönlichen, bildungsvergnügten, herzlichen Walser-Sound", der auch in früheren Romanen Martin Walsers vorkäme. Sehr wohl erkenne Kaiser "wilden, vielleicht sogar mordlustigen Hass" gegen den renommierten Literaturkritiker, doch sei dies kein Grund, das Buch nicht zu veröffentlichen. Es sei keine Weltliteratur, aber in der Tradition von Simmel ein Vergnügen. i

Martin Walser wurde schon mehrmals ins politisch rechte Eck gedrängt. Man erinnert sich an die sogenannte Sonntagsrede in der Paulskirche. Walser sprach von einer "Instrumentalisierung von Auschwitz". "Wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt." Er sei "fast froh" wenn er glaube, "entdecken zu können, dass öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken." "Ich halte es für unerträglich, die deutsche Geschichte - so schlimm sie zuletzt verlief - in einem Katastrophenprodukt enden zu lassen." Er erkenne im Umgang mit der deutschen Nazi-Vergangenheit ein Gewissen, das bloß um des Gewissen-Willens geschähe. Alles in allem wendet er sich gegen Auschwitz als "Moralkeule", welche die Deutschen davon abhielte, "ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft" zu sein. Das Holocaust-Denkmal in Berlin beschreibt er als eine "Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Alptraum".
Die Reaktion blieb nicht aus: Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, kritisiert den antisemitischen Inhalt dieser Rede öffentlich und bezichtigte Walser der "geistigen Brandstiftung".

Mein erster gelesener Roman von Martin Walser war die neunzehnachtundneunzig erschienene Spätprosa Ein springender Brunnen. Es wird die teils autobiographische Geschichte des Heranwachsens von Walsers alter ego Johann erzählt. Es spielt in der Zeit vor, zwischen und nach dem zweiten Weltkrieg und gibt einen Einblick in den Zustand deutscher Familien während des Faschismus. Das außergewöhnliche an dem Roman ist, dass, obwohl die Zeit als eine reale gesehen werden kann, kein einziges Wort über einen Juden, über das jüdische Schicksal, die Konzentrationslager und den gesamten Massenmord an die jüdische Gemeinschaft auftaucht. Hier wird ein Abschnitt neuerer Geschichte wiedergegeben und zur selben Zeit leittragende Tatsachen ausgespart, wie wenn sie nicht mit den Gegebenheiten in Verbindung stünden. Läse dies ein Mensch, der ideell nichts vom Holocaust wüsste, hätte er nach der Lektüre dieses Buches eine rundweg getrübte und verlogene Sicht auf die Vergangenheit; er wüsste von der Armut der Vorkriegszeit, von den in Irrationalität und Hass mündenden Verzweiflungen der schlichten Bürger, von den Einsamkeiten der vom Krieg Zurückgebliebenen, von den niederträchtigen Aggressionen der einfachen Provinzbevölkerung, von den nie Zurückgekommenen, von den Alliierten russischer Herkunft, vom Heranwachsen eines jungen Menschen undsoweiter. Doch der sechsmillionenfache Mord an den Juden würde im Stillen bleiben.
Einerseits ist dies gefährlich, denn es erinnert teilweise an Geschichtsverfälschung und Leugnung trauriger und unverrückbarer Tatsachen. Andererseits lässt sich dieses Buch als neuartig erkennen, denn die übliche, und völlig relevante, Nachkriegsliteratur wurde zumeist von jüdischen Dichtern geschrieben, die den Versuch anstellten, das Geschehene literarisch und künstlerisch aufzuarbeiten, man denke an Primo Levi und Kertész. Und auch die deutschen Dichter der Nachkriegszeit und kommende Generationen wurden zum Glück nicht müde, das unbeschreibbare Schicksal deutscher Juden zu verurteilen, an welchem ein denkender Mensch nicht umhin kann.
So ist es ein Neues, die Geschichte des Weltkriegs und die unerträglichen Umstände dieser Zeit ausschließlich aus deutscher Sicht zu schildern. Und die Meinung, in dessen Falle man leicht zu stolpern droht, dass alle Deutschen Nazis waren, wird hier wie zunichte gemacht.
Ist es Antisemitismus, wenn ein Mensch die Geschichte seiner Jugendzeit erzählt, eines Ortes, das nie eine Außenwelt zu Gesicht bekommen hat?
Man kann hier nicht von Antisemitismus sprechen, da, wenn man so will, das Leugnen eines essentiellen und nicht in Vergessenheit zu verkommendes Ereignisses wie die Shoa, in Ein springender Brunnen nicht auf gehässige Art und Weise geschehen ist, sondern es in dieser erzählten Geschichte um dieses Dorf in dieser Zeit mit diesen Menschen nicht von notwendigem Belang ist. Der Holocaust, wie schlimm das auch klingen mag, steht in keiner
Relevanz zum intimen Erlebten eines Kindes, das heranwächst, seine erste Liebe findet, Neid, Hass und emotionale Ausbrüche kennenlernt, das Fehlen eines Menschen begreift und pubertäre Verwirrungen durchzuleben hat. Hätte ein Schriftsteller die Intention, das Ausmaß des Krieges, die Erklärungen politischer Zustände und das wahre seelische Leid von kriegsbedingten, faschistoid verfolgten Opfern darzustellen und würde im selben Atemzug das große einzigartige Unglück unserer neueren Geschichte ignorieren, so wäre er nichts als ein verächtlicher Dummkopf und menschenunwürdiger Leugner, der nichts begriffen hätte und dem der Bleistift aus purer Verantwortungslosigkeit weggenommen gehörte.

Walser ist kein Zeitgenosse dieser Art. Wäre Walser ein Antisemit, so würde das Wort in seiner Unrichtigkeit benutzt werden.
Tod eines Kritikers ist eine offensichtlich schriftlich prosaische Kritik an den "Literaturpapst" Marcel Reich-Ranicki. Die ihm angedichteten Eigenschaften des Protagonisten André Ehrl-König decken sich zumeist mit denen des realen Vorbilds. Er besitzt einen unüberhörbaren Sprachfehler, seine Gestik der in die Höhe schnellenden Hände bei starrköpfigen Überzeugungsakten, sein Hang zur Malerei des Schwarz-Weißen, die Einteilung der von ihm besprochenen Bücher in gute und schlechte, seine Art des konsequenten Verurteilens, seine jüdische Abstammung. All das malt ein Bild eines Menschen, der Macht und das Wissen darüber hat, der in seiner sexuell anmaßenden Weise den Ekel übertrumpft, der überhebliches Selbstbewusstsein und Arroganz zu seinen ihm anhaftenden Eigenschaften macht, der die wahren Freunde verloren und die falschen gefunden hat, der in Gier versinkt und denjenigen zu Boden stampft, der ihm in den Weg kommt. Und der Jude ist.
Allein: Die Tatsache, dass ein vor Unausstehlichkeit und Ekelhaftigkeit triefender Mensch Jude ist, macht den geistigen Erschaffer dieser Figuren noch zu keinem Antisemiten.
Denn hier liegt der Fehler, das Gefährliche an Antirassismus und sogenannter Gleichstellung. Es bedeutet nicht, denjenigen, der bedauerlicher Weise stets und sein ganzes Leben, seine ganze Geschichte lang mit Vorurteilen zu kämpfen hatte bis in den Tod, sozial höher zu platzieren ist als er in Tatsächlichkeit darstellt. Meist bedeutet Gleichstellung, dass derjenige, der die Gleichstellung zu Recht erkämpft, also derjenige, der vorher auf der gesellschaftlichen Leiter eine Sprosse darunter sich befand als der Angefochtene, plötzlich, wenn das Ziel zur Realität wird, mit einem Schub zwei Sprossen hinaufkommt, also eine Sprosse höher hinabschaut. Die weibliche Emanzipation hat es erreicht, dass nun ein besonderer Augenmerk den Frauen gilt, dass ihnen nun Vorteile gegenüber den Männern gebracht wurden. Aber es lässt sich hier nicht von Gleichstellung sprechen. Gleichstellung würde bedeuten, dass die Menschen, Frauen wie Männer, nicht darüber nachdenken, ob sie es nun mit einer Frau oder mit einem Mann zu tun haben. Dass sich sozusagen die Irrelevanz einschaltet, die Gleichgültigkeit. Frauen und Männer sind im gesellschaftlichen und sozialen Kontext ein- und dasselbe. Kein Nachdenken mehr über die allgemeine und zu Unrecht geglaubte Verschiedenheit; sie verschwindet im Menschsein, in der Einigkeit. Zu behandeln ist der Mensch, nicht die Frau oder der Mann, der Schwarze oder der Weiße, der Jude, der Roma, der Zigeuner; jegliche Abstammung wird aufgehoben und führt zu einem: zum Menschen. Alle sind gleich und wirklich gleich. Wenn dies in einem Kopf Platz findet, so existiert kein Gedanke im Bewusstsein und keine Publikation auf dem Blatt und keine Meinung im Volksbewusstsein mehr, die verächtliche Vorurteile zu schaffen weiß. Die "Abstammung" der Menschen löst sich auf im Einerlei.
Wenn nun Walser seinen fürchterlichen und grausamen, herrischen und teufelartigen Protagonisten einen Juden sein lässt, so löst sich dies in völliger Gleichgültigkeit auf. Denn der Leser weiß nur eines: Er ist fürchterlich und grausam, herrisch und teufelartig, nichts sonst. Es gibt keine Juden, es gibt keine Deutschen, es gibt keine Kubaner, es gibt keine Afrikaner. Wenn immer wieder in Zeitungen, Massenmedien, Büchern, Ausgesprochenem das Augenmerk auf eine in jeder Hinsicht irrelevante Abstammung fällt, so werden weiterhin Unterschiede getroffen, die zu Unruhen, Intoleranz, Xenophobie undsoweiter führen.
Jeder Mensch ist für seine Ideologie, für seine Meinung antastbar, kritisierbar; doch lebt jede Ideologie unabhängig von ihrer Herkunft oder der Herkunft ihres Schöpfers.

Das jüdische Schicksal und die Gräueltaten meiner Vorfahren dürfen niemals vergessen werden. Folglich spricht jedes Verstummen, jedes Schweigen gegen die Verantwortung, die aus gutem Grund auf uns lastet und ein Vergessen erscheint als die größte Dummheit, die vorstellbar ist.
Aber es darf kein Unterschied mehr gemacht werden zwischen Ich und dem Anderen. Anstelle eines mörderischen Instinktes des Menschen muss die große Fruchtbarkeit der humanen Vernunft berufen werden, der wir all unseren Fortschritt und unserer Freigeistigkeit zu verdanken haben.

Unter diesem Aspekt ist Walsers unscheinbarer und amüsanter Roman Tod eines Kritikers frei von jeglichem Antisemitismus. Das heißt, es liegt bei uns, ihn von diesem Vorwurf freizusprechen.
Das was bleibt, ist ein gewisser Ekel vor Fernsehauftritten eines bestimmten deutschen Literaturkritikers, dessen in die Höhe schnellenden Hände und Malerei des Schwarz-Weißen unergründlich furchterregend ist.

i Quelle: perlentaucher.de

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