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schandfleck.ch_textkritik/2007/september
david manuel kern
 

Meine Literatur 3

Ach, und wieder ist eine Zeit vergangen, eine verzweifelte, aufbrausende, spöttische, blinde, dumpfe, erhellende. Und wieder sind die Seiten verblättert, häufen sich in den Erinnerungen des Gedächtnislosen. Und die Tage lösen sich gegenseitig ab, als würden sie sich niemals zufrieden geben mit dem Zustand des Glücks. Man leidet an jenen, die der Literatur den Rücken kehren, jedes Wort zur Beschwerlichkeit führen, man preist jene, die ohne sie nicht auskommen.
Das Preisende dann findet seine Bekräftigung.
Der Nordbürger Hamsun, dessen Schlinge bei jedem Buch fester zusammenkrümmt, der Europäer Max Frisch, dessen qualitativer Dilettantismus erschreckend wirkt, der Moralist Günter Grass, dessen Sprachwut die Furcht das Zittern lehrt. Was soll man ausspucken, der nichts zu sagen hat. Man verliert und findet sich unentwegt. Milan Kunderas Literaturrezeption, die der Unverständlichkeit reinste Klarheit schenkt, Cesare Paveses Bauernschlauheit, an deren Ende der Freitod steht. Und die wohlige Zigarette verirrt sich nie im Rauch, selbst wenn der gute Abend der Neige entgegentritt. Die kleinen Amerikaner mit ihrem grandiosen Untalent, Philip Roth und Jonathan Franzen zu Ehren. Die großen Amerikaner mit ihrer Sprachgewandtheit, Mark Twain und Edgar Allan Poe zu meiner Bewunderung. Der ewige Hesse, an dem ich nicht vorbeikomme, der mich stets zu enttäuschen weiß. Die Deutschen überhaupt, Borchert, Böll, Koeppen, Kipphardt. Novalis unter den Romantikern und Süchtigen, die dem Rausch ihren Tribut zollten und nichts damit erreichten; die Blaue Blume als das große Hirngespinst der deutschen Literatur. All die Verschachtelungen, Gewalttätigkeiten, Niederungen bei Kleist, all die Unerfülltheiten, Naivitäten und Anbetungen bei Keller.
Und wenn der Morgen graut und die Nüchternheit zutage tritt, erinnert man sich zurück wie an einen halbvergessenen Traum. Es durchfährt einen mit Kälte, Ungeborgenheit und man beginnt sich zu sehnen. Man wünscht sich zurück in die Gefilde der Literatur, in den Hohn, den Wahnsinn, die alles durchdringende Liebe. Man wünscht sich die Ungestörtheit, man fühlt sich fehl am Platz, als Feind der Welt, die einen zu umgeben weiß. Man betet Raskolnikoff an, verzeiht ihm jede Schuld, lässt keine Sühne vergelten, man begnadigt gar das Jünglinghafte. Man erotisiert mit den Buddenbrooks, lässt alle Hannos und Tonios auferstehen, um den Festtag ein weiteres Mal lobzupreisen. Man spuckt auf die Straße, die Dickens betreten hat und segnet jeden Waldesrand, dem Handke begegnet ist.
Auch der neue Tag bringt nichts Gutes. Die Bücher aber scheren sich einen Dreck und rüsten sich für den Kampf gegen Windmühlen. Aber Cervantes langweilt, enttäuscht. Wie all die Naivität in der Sprache, die nicht auszurotten ist. Lachen mit Kästner, weinen mit Gernhardt. Gaddis bricht mit dem mechanischen Klavier, Gombrowicz mit der Ernsthaftigkeit. Goethe vom hohen Sockel stürzen, solidarisieren mit Brecht und Heine. Das Pädophile bei Altenberg und Schiele, die Reinheit bei Fosse und Kafka.
Ich bin nicht der Weltenbürger und Meerumsegler, der Blechtrommelspieler und Verfallene, der krankhafte Paulus und betrunkene Bohème, der betrogene Ehemann und der wartende Estragon, nicht der schöne Freund und das Kind in der Provence, nicht Mario und nicht Zauberer, nicht der arme Spielmann und nicht Candide. Ich bin nicht die Wiederholung und der krähende Hahn, nicht Gantenbein und Polsunkoff, nicht K. und Nolten, nicht Knulp und Bartleby.
Ich bin der Leser und somit Teil der sterbenden Gattung.

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