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schandfleck.ch_textkritik/2007/august
daniel costantino
 

Mondesaufgang
erhellendes zur deutschen dichtkunst


Achim von Arnim


Ritt im Mondschein (1820)


Herz zum Herzen ist nicht weit
Unter lichten Sternen,
Und das Aug, von Tau geweiht
Blickt zu lieben Fernen;
Unterm Hufschlag klingt die Welt,
Und die Himmel schweigen,
Zwischen beiden mir gesellt
Will der Mond sich zeigen.


Zeigt sich heut in roter Glut
An dem Erdenrande,
Gleich als ob mit heißem Blut
Er auf Erden lande.
Doch nun flieht er scheu empor,
Glänzt in reinem Lichte,
Und ich scheue mich auch vor
Seinem Angesichte. -


beträten ausserirdische die verweste erde und fänden, immun gegen zersetzendes gift, diese zeilen, erbschaft der menschheit, verbliebenes wort und testament, letztes zeugnis, das aller vernichtung getrotzt, was würden sie denken, dechiffrierten sie dieses gedicht? verklärter schmutz, zahmer seelenschmeichel, kitschmelodei eines edelpreussen und superchristlichen tischgesellschaftlers, und napoleon zog ins feld und europa gegen ihn, und britannien schlachtet die amerikaner und die alliierten besetzen paris, tüfteln und schachern und intrigieren in wien, und völkerschlacht und waterloo und wunderhorn - gott, herz zum herzen, lichte sterne! ja, unterm hufschlag klingt die welt, wie wahr, wie ausdermassen romantisch serviert! und wie zartbesaitet heiss das blaue, arische blut, merkten sies, vermöchten sies zu denken, die fernen gestalten, die so gescheit und technisiert und fortgeschritten zur erde gefunden? sähe es ein vermenschter, wohlbestallter, sattgefressener kulturschimpanse noch heute, beizeiten, o wunder! kurz vor dem intelligiblen und ultimativen kollaps?
lang ists her, die alten sungen.
nichts höriger, als solche schwärtchen in die schulbücher zu setzen, egal welcher drillepoche, nichts spiessiger aber auch, als den pseudopoesietakten vorzuwerfen, sie entsprächen nicht mehr der heutigen zeit, aktuellem lebensgefühl, moderner auffassung von lyrik. die obern zehntausend haben immer gar milden trost versprochen und lobedich, preisedich die verdummten schafe geschoren. es kann nicht etwas zum kitsch verfaulen, was ehedem etwas gutes gewesen.

Helmut Heissenbüttel

Schlager antik (nach 1950)

der göldnen Sternen Reihungen erbleichen
Orion fällt bestürzt und die Plejaden weichen
die totgesagt war Liebe bricht herein
und Tag und Nächte sind mit sich allein
verrückt schau ich die Zeit die läuft zurück
ich schau was ist wie ein Theaterstück
gewisser Ungewissheit Traurigkeit
füllt die in sich zurückgekehrte Zeit
Oktober hat noch einmal dies durchtagt
und Zukunft sich erfüllt wie es vorausgesagt
der Ruhe Geist ist in den Stunden
der prächtigen Natur mit Tiefigkeit verbunden
in traurigem Gesang erkennt
sich meines Schmerzes süsses Instrument
geblieben ist was mir nicht war gewohnt
hier unter diesem wechselweisen Mond
und was ich noch zu sagen wüsste
ist nicht was ich zu sagen sagen müsste
wenn aber Liebende die weinend wollten scheiden
nach unerhörter Sehnsucht langen Leiden
ans Herz sich dennoch dürften wieder pressen
zu küssen würden sie sich hier vergessen

finden sich arnims beiträge zur deutschen lyrik und ähnlich geartete ergüsse seiner kollegen zu hunderttausenden im internet, mindernet, so fehlt ein solch kluges vögelein leider indes. mit diesem beitrag sei ihm ein erstes kleines, feines nest gebaut. google wirds bald weisen, ob es flügge werden will und von dannen ziehen in die weite welt.

"Eingewickelt in Maschen aus Meinung und Sprichwörtern und all solch Nachschleifendem. All dies Nachschleifende hinter mir herschleifend. Wenn ich mich rühre, wird immer alles mitberührt ... Verheddert sich. Zieht sich stramm. Spannt reißt schleift hängt. Ich halte mich still und es bewegt sich alles durch mich hindurch."
solche sätze versetzen mich in die stimmung, heissenbüttels spur zu folgen und nachzuschauen, was von seinen werken noch aufgetrieben werden kann. ob die 'textbücher' (etwa 'mehr oder weniger geschichten', 1965, 'abhandlungen über den menschlichen verstand', 1967, sie alle, 1-6); 'eichendorffs untergang und andere märchen'; 'wenn adolf hitler den krieg nicht gewonnen hätte' - mein geist ist hellwach geworden:

"Ich rede wenn ich rede in einer Sprache die meiner Rede fremd ist. Meiner Rede ist die Sprache in der ich rede uneigentlich. Redend in der Sprache die der Rede fremd geworden ist wird diese Sprache anders."

und den gar zahlreichen nachkommen von arnims und sonstigen kirchenlichtern sei gesagt, was schon vor 200 jahren galt: wohlfeile sprache verdirbt am schnellsten. vorallem den charakter.

August Stramm

Mondschein (1914)

Bleich und müde
Schmieg und weich
Kater duften
Blüten graunen
Wasser schlecken
Winde schluchzen
Schein entblößt die zitzen Brüste
Fühlen stöhnt in meine Hand.

ein wagemutiger umgang mit sprache, sehr originell und gewitzt, den mann wollte man seinerzeit solcher gedichte wegen in psychiatrische obhut geben, so aussergewöhnlich gestört erschien der familie und freunden die sache. möglicherweise ein lohnendes experiment, sich vorzustellen, wie es stünde mit uns und unserer bildung, würden wir nicht mit sattsam bekannter fastfoodromantik gestopft, sobald unser poetischer appetit nach stillung verlangt. würden nicht kistengeflacker und sitcomgebrunz früh unsre defizitären gefühlsstrukturen ruinieren, überspülten nicht schlick und schlacke des sprachlichen mainstreams unser geistiges gut. was, hätte die sprache stramms, mehr noch seine experimentierfreude sich wohltuend und innovativ ein wenig in unserm alltag durchgesetzt?

Albert Ehrenstein

Ausgesetzt (um 1920)

Der Mond bespuckt
den blaßgrauen Jüngling
Mit sterbendem Licht.
Das Frühlingsmädchen zeigt
Ihre Schenkel
Dem Spiegel
Und haucht
Zu ihrer einsamen Scham :
Wann ?
Ihr Götter im Himmel der Überwelt,
Ihr Menschen in Urwäldern irdischer Natur !
Die todeswürdige Erde
Gebiert zu viel Wesen,
Kinder schluchzen verlassen
Am Wildstrom des Lebens.

ein provokatives, blasfemisches, apokalyptisches gedicht. nichts seichtes mehr in den alten motiven, dümmliches, barmseliges fleucht durch die zeilen. da wird, mit nicht wenig spott, ein abgesang aufs abendland geboten, entblösste idylle, zersetzt, bespuckt, ein bruch nicht nur mit den traditionen riskiert, da wird ihr inhalt auf den kopf gestellt. das gedicht zeigt mit kräftigen bildern und starker symbolik degenerationserscheinungen einer zerstörerischen, schizoiden menschheit. ich erblicke darin, wie im mir leider bis heute nur bruchstückhaft und auszugsweise zugänglichen werk ehrensteins, die satte entsprechung der hauptsächlich von nietzsche geprägten analyse einer durch skrupellose ausbeutung geförderten sklavenmoral, aufgedeckt am beispiel der verabsolutierung christlicher werte. die groteske parodie des mondes, ebenso versiechend der jüngling als verachteter, entwürdigter mensch schlechthin, das dümmliche, eitle frühlingsmädchen - ideologiekritik noch verwoben in diese doch im ganzen traurige szenerie, mit dem deprimierenden ende schluchzender kinder, überbleibsel des fanatischen kriegs. es kommt vieles zusammen in den äusserst dichten, krassen bildern, widerspiegelung verzweifelter, an der oberfläche aber auch höhnischer stimmung, gelungene analogie zum gesellschaftlichen schnack, wie modische schminke übers grauen getuscht, illustrierung des satzes: 'kein schrei weckt dies konservativ blökende schafvolk', der andernorts vom dichter überliefert.

nun also, es gibt doch andres noch als die eitle, fromme, mondanbeterische massenware zum tema. man lese noch einmal arnims verquatschtes stück. und wers jetzt nicht glaubt, was da betrieben, sei und bleibe ein ignorant.

Heinrich Heine

Dämmernd liegt der Sommerabend (1826)

Dämmernd liegt der Sommerabend
Über Wald und grünen Wiesen;
Goldner Mond, im blauen Himmel,
Strahlt herunter, duftig labend.

An dem Bache zirpt die Grille,
Und es regt sich in dem Wasser,
Und der Wandrer hört ein Plätschern
Und ein Atmen in der Stille.

Dorten an dem Bach alleine,
Badet sich die schöne Elfe;
Arm und Nacken, weiß und lieblich,
Schimmern in dem Mondenscheine.

schwankend mein urteil über heines gedichte im ganzen; vertont von romantischen meistern, verbreiten sie zuweilen eine grosse atmosfäre, doch da herrscht die musik über den text, überblendet manch epigonale, beim blossen lesen einfältig wirkende passage (robert schumann: 'du bist wie eine blume'). ich denke schon, dass man dichtersprache nüchternen geistes und ohne zutun von beschallung am kargen tische beurteilen soll, denn so ist sie ja meist auch entstanden. und da gelten strenge gesetze, die spreu vom weizen, hausmannskost von der delikatesse zu trennen.
viel durchschnittliches, nichts überragendes bisher, was ich von heine las, fast alles hätte er ebensogut in prosa sagen können. meist eine fixfertige stimmung, artig dekoriertes ambiente, umweltschonendes sprachrecycling. poetische lumpensammelei, herausgeputzt und recht appetitlich arrangiert und für ein paar pfennige feilgeboten, kaum mehr. vieles nichts als kitsch, anderes, ironisch gebrochen, gerettet sozusagen, parodiert nicht schlecht, kann aber keinen anspruch auf sprachschöpferische intension erheben. das vorliegende gedicht, wie eine spontane reimerei, völlig ohne dichterische substanz, brisanz, bedient sich bekannter, traditionellem fundus entlehnter bilder, regrediert aber immerhin nicht zur künstlichen einfalt, zu verschminkter seelenglätterei letzten endes, dazu klingt es zu salopp, akademisch distanziert. eine sanfte, feine, aber bewusste übertreibung, denk ich mir, erzeugt eine ironie zum schmunzeln, keine absage unter lautem lachen, siehe heissenbüttel, eigensarkasmus inklusive, keine blossstellung wie dort, keinen krassen bruch. zuviel rührseliges element schwingt noch mit, von dem sich der autor nicht wirklich zu lösen, nur wehmutsvoll-ironisch zu distanzieren vermag. eine letzte verklärende referenz verbleibt, will mir scheinen, am schluss.

Annette von Droste-Hülshoff

Mondesaufgang (1844)

An des Balkones Gitter lehnte ich
Und wartete, du mildes Licht, auf dich.
Hoch über mir, gleich trübem Eiskristalle,
Zerschmolzen schwamm des Firmamentes Halle;
Der See verschimmerte mit leisem Dehnen,
Zerfloßne Perlen oder Wolkentränen?
Es rieselte, es dämmerte um mich,
Ich wartete, du mildes Licht, auf dich.

Hoch stand ich, neben mir der Linden Kamm,
Tief unter mir Gezweige, Ast und Stamm;
Im Laube summte der Phalänen Reigen,
Die Feuerfliege sah ich glimmend steigen,
Und Blüten taumelten wie halb entschlafen;
Mir war, als treibe hier ein Herz zum Hafen,
Ein Herz, das übervoll von Glück und Leid
Und Bildern seliger Vergangenheit.

Das Dunkel stieg, die Schatten drangen ein -
Wo weilst du, weilst du denn, mein milder Schein?
Sie drangen ein, wie sündige Gedanken,
Des Firmamentes Woge schien zu schwanken,
Verzittert war der Feuerfliege Funken,
Längst die Phaläne auf den Grund gesunken,
Nur Bergeshäupter standen hart und nah,
ein düstrer Richterkreis, im Düster da.

Und Zweige zischelten an meinem Fuß
Wie Warnungsflüstern oder Todesgruß;
Ein Summen stieg im weiten Wassertale
Wie Volksgemurmel vor dem Tribunale;
Mir war, als müsse etwas Rechnung geben,
Als stehe zagend ein verlornes Leben,
Als stehe ein verkümmert Herz allein,
Einsam mit seiner Schuld und seiner Pein.

Da auf die Wellen sank ein Silberflor,
Und langsam stiegst du, frommes Licht, empor;
Der Alpen finstre Stirnen strichst du leise,
Und aus den Richtern wurden sanfte Greise,
Der Wellen Zucken ward ein lächelnd Winken,
An jedem Zweige sah ich Tropfen blinken,
Und jeder Tropfen schien ein Kämmerlein,
Drin flimmerte der Heimaltlampe Schein.

O Mond, du bist mir wie ein später Freund,
Der seine Jugend dem Verarmten eint,
Um seine sterbenden Erinnerungen
Des Lebens zarten Widerschein geschlungen,
Bist keine Sonne, die entzückt und blendet,
In Feuerströmen lebt, im Blute endet -
Bist, was dem kranken Sänger sein Gedicht,
Ein fremdes, aber o! ein mildes Licht.

kein erstrangiges gedicht.

An des Balkones Gitter lehnte ich
Und wartete, du mildes Licht, auf dich.
Hoch über mir, gleich trübem Eiskristalle,
Zerschmolzen schwamm des Firmamentes Halle;
Der See verschimmerte mit leisem Dehnen,
Zerfloßne Perlen oder Wolkentränen?
Es rieselte, es dämmerte um mich,
Ich wartete, du mildes Licht, auf dich.

mit leisem dehnen verschimmernder see - ein wahrhaft poetisches, ganz subtiles, ausgesprochen gutes und schönes bild. weiteres in dieser ersten strofe kann aber nicht entzücken: den ersten zwei zeilen eignet noch nichts, was man gut oder schlecht finden könnte, der vergleich des eiskristalls aber mit der halle des firmaments haut schon daneben, was einen kristall mit einer halle verbände, leuchtet mir nun garnicht ein, es sei denn, der reim. wie kann etwas zerschmolzen schwimmendes eine halle sein? zu trübem kristalle zerschmelzende halle, das wär vielleicht was gewesen. das schöne bild der fünften zeile finde ich etwas getrübt durch die gar einfältigen wolkentränen, zu plakativ drangeklebt, zu griffbereit paratgelegen, wohl wieder eine konzession an den reim, der von der siebten zur achten zeile sogar ein wenig holpert, organischerweise kann 'um mich' nicht so betont sein, wie das versmass es erforderte. ich frage mich hier bereits, ob ich mir tatsächlich in der droste die vielgelobte 'grösste deutsche dichterin' vorstellen kann. ohne die deutsche dichtung insgesamt zu überschätzen, wohlverstanden.

Hoch stand ich, neben mir der Linden Kamm,
Tief unter mir Gezweige, Ast und Stamm;
Im Laube summte der Phalänen Reigen,
Die Feuerfliege sah ich glimmend steigen,
Und Blüten taumelten wie halb entschlafen;
Mir war, als treibe hier ein Herz zum Hafen,
Ein Herz, das übervoll von Glück und Leid
Und Bildern seliger Vergangenheit.

der anfang zu sachlich, beliebig aufzählerisch, um poetisch, anlass zu einem gedicht zu sein. die zweite zeile absolut pennälerhaft. dass nachtfalter summen, wissen wir alle, und sehen ist nun auch nicht gerade ein apartes verb. eine einprägsame, dichterische fünfte zeile wieder, aber sie bleibt auch in dieser strofe singulär. die plötzliche heranziehung eines herzens (wessen? eines geisterherzens? eines geisterherzens!), die substantive glück und leid, womit es wie mit gekräuseltem firlefanz umwickelt, und die knall auf fall hingedreschte selige vergangenheit - nee, gut ist das nicht.

Das Dunkel stieg, die Schatten drangen ein -
Wo weilst du, weilst du denn, mein milder Schein?
Sie drangen ein, wie sündige Gedanken,
Des Firmamentes Woge schien zu schwanken,
Verzittert war der Feuerfliege Funken,
Längst die Phaläne auf den Grund gesunken,
Nur Bergeshäupter standen hart und nah,
ein düstrer Richterkreis, im Düster da.

die letzte zeile sei als gelungen akzeptiert! bisschen wehleidig aber die zweite. allzu frommes sensibelchen. die schatten dringen ein wie sündige gedanken, ja, das gefällt mir, überaus gelungen. es fällt mir aber auf, dass wenig atmosfärisches sich im gedicht entfaltet, kein spiel der sinne, kein ernstzunehmender stimmungszusammenhang, heine grüsst aus der zukunft zurück. auch wenn einzelne bilder einprägsam sind, wiederum auch die fünfte zeile, nebst der dritten und der letzten, knickt die sache künstlerisch doch immer wieder ein, entblössen billige reize, strapazierte reime, der insgesamt vorherrschende prosaische duktus die droste als talentierte dilettantin, die ein paar guter metafern fähig, aber nicht der komposition eines guten gedichts.

Und Zweige zischelten an meinem Fuß
Wie Warnungsflüstern oder Todesgruß;
Ein Summen stieg im weiten Wassertale
Wie Volksgemurmel vor dem Tribunale;
Mir war, als müsse etwas Rechnung geben,
Als stehe zagend ein verlornes Leben,
Als stehe ein verkümmert Herz allein,
Einsam mit seiner Schuld und seiner Pein.

völlig missglückte strofe. sie ist unter strengen gesichtspunkten indiskutabel. ein warnungsflüstern! vielleicht brauchbar in einer militärischen nachtübung. und wie sehr gleicht ein solches doch dem todesgruss, nicht wahr? die adverbien etwas inflationär gesetzt. die wendung 'rechnung geben' passt auch nicht recht in ein romantisches gedicht. passt einfach nicht hierher. das volksgemurmel vor dem tribunale, herrliche idee, ist durch den schaden gleich weggeblasen. zu rührselig, vorallem auch nach diesem buchhalterischen ausdruck, das zagend dastehende verlorne leben und, ach, ebenso stehend ein verkümmert herz, allein! die letzte zeile vollends grundstufenniveau. und kein kritischer kommentar im internet zu solcher verseschmiederei. alles muss meinereiner selber machen. (als stehe mein verkümmert herz allein!)

ich denke, den rest kann man sich zur analyse sparen. herausragend noch das fromme licht, der alpen finstre stirnen, blinkende tropfen, tropfende kämmerlein, und, wer hätts nicht ahnen können, der heimatlampe schein, lampenscheinmat hain, ei ei!
kranker sänger? kranke claqueure!

Johann Wolfgang von Goethe

An den Mond (1789)

Füllest wieder Busch und Tal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz,

Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick,
Wie des Freundes Auge mild
Über mein Geschick.

Jeden Nachklang fühlt mein Herz
Froh- und trüber Zeit,
Wandle zwischen Freud und Schmerz
In der Einsamkeit.

Fließe, fließe, lieber Fluß!
Nimmer werd ich froh,
So verrauschte Scherz und Kuß
Und die Treue so.

Ich besaß es doch einmal
Was so köstlich ist!
Daß man doch zu seiner Qual
Nimmer es vergißt!

Rausche, Fluß, das Tal entlang,
Ohne Rast und Ruh,
Rausche, flüstre meinem Sang
Melodien zu,

Wenn du in der Winternacht
Wütend überschwillst
Oder um die Frühlingspracht
Junger Knospen quillst.

Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt,
Einen Freund am Busen hält
Und mit dem genießt,

Was, von Menschen nicht gewußt
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.

dann rufen wir doch gleich hervor den alten meister!
ich habe an dem gedicht nichts auszusetzen, weil goethe sich keinen seichten gedanken erlaubt. sprachlich, ästetisch, musikalisch ist es gelungen, ein kunstwerk. es erscheint mir untergründig sinnlich, hochmusikalisch und sehr filosofisch. aromatisch edel und ausgewogen, in der würze kraftvoll bekömmlich. ein grosser wein, burgunder. höchster geistiger nährwert.
man vergleiche goethes reim mit andern, ersehe, wie stark er fruchtbare verbindung zweier gedanken, nicht klanglicher reiz bloss ist, geschöpf und nicht attrappe, ertrag und nicht spekulation.

Füllest wieder Busch und Tal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz

ein stümper, dem die erste zeile geglückt, suchte nach effektvollem reime für tal, er fände wohl eines wie wahl, qual, saal und schmiedete drauflos, er tippte auf tanz für glanz, stolperte gewiss beim lexikalischen check-in über ganz, wüsste sich aber keinen echten - reim darauf zu machen. womöglich hielte er das wörtchen ganz für zu magere kost, den pötischen appetit seiner leser zu stillen. er reimte dieserart:

An des Balkones Gitter lehnte ich
Und wartete, du mildes Licht, auf dich.
Hoch über mir, gleich trübem Eiskristalle,
Zerschmolzen schwamm des Firmamentes Halle

was sagte ich über den zusammenhang vom kristalle mit einer halle? nicht nur im gegensatz zu goethes auftakt wirkt drostes anfang hölzern und wacklig wie ein baugerüst. die spontane empfindung eines aufnahmefähigen lesers, er möge zwanzigmal ein laie sein, wird ihn nicht getäuscht haben. man muss nicht wissen, wies gemacht wird, man muss es beileibe nicht selber können. der unterschied zwischen werkeln und gestalten muss dem talentierten leser nicht akademisch bewusst sein, er hat trotzdem die sensibilität, krach von musik und einen hausputz von harmonie zu unterscheiden.
lyrik entsteht nicht nach einem rezeptbuch.

Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick,
Wie des Freundes Auge mild
Über mein Geschick

und:

Der See verschimmerte mit leisem Dehnen,
Zerfloßne Perlen oder Wolkentränen?
Es rieselte, es dämmerte um mich,
Ich wartete, du mildes Licht, auf dich

ergeben im gehalt einen unterschied wie zwischen einer grossen komposition und einem kommerzschlager, drostes gelobte zeile vom verschimmernden see hin oder her. lässt sich eindeutiger spüren jetzt, wie knitterig neben den zerflossnen perlen die wolkentränen sich ausmachen, wie geradezu kunstledern zum leisen elastischen dehnen? beflissne suche nach einem reimwort. krokodilstränen, geheuchelte betroffenheit! -

indes hier

Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick,
Wie des Freundes Auge mild
Über mein Geschick

die entfaltung eines grossen gedankens zu erleben ist, der sich über alle zeilenenden hinaus bewahrt und bewährt.
wie unauffällig, wie wunderbar, wie hocherotisch goethes stabreim den sprachlichen stoff durchwebt, man braucht es nicht einmal zu merken, man lauscht dieser tiefen musik wie einer offenbarung.

wogegen drostes bemühungen um alliteration

Und Zweige zischelten an meinem Fuß
Wie Warnungsflüstern oder Todesgruß;
Ein Summen stieg im weiten Wassertale
Wie Volksgemurmel vor dem Tribunale

wie hübscher tand einen souvenirshop schmückt, der schon mit dem zweiten absatz infolge unseriösen geschäftsgangs konkurs anmelden muss und, mangels kreditwürdigkeit ohne nachschub, im dritten quartal die tore schliesst.
oder: wie koketterie sich gegen seelisches erleben sperrt.
totaler ausverkauf!
und noch etwas zur herz-schmerz-lyrik, sowohl gegen ihre verfasser wie ihren kritikern zum bedenken. man kann, selbstverständlich sogar heute, herz auf schmerz reimen, wenn man es zum beispiel auf diese weise tut:

Jeden Nachklang fühlt mein Herz
Froh- und trüber Zeit,
Wandle zwischen Freud und Schmerz
In der Einsamkeit

denn hier ist der reim nicht ergebnis einer detektivischen fahndung, wonach erst der mörder (der reim) feststeht und dann motivsuche und beweisführung (zusammenhängender gedankenstrang) mühsam und unvollständig einsetzt (unter sturer ableugnung des mörders) - hier reimt sich ein gedanke auf den andern, reimt sich ein tiefschürfendes zwiegespräch.

anders leider solche stellen:

Und Blüten taumelten wie halb entschlafen;
Mir war, als treibe hier ein Herz zum Hafen,
Ein Herz, das übervoll von Glück und Leid
Und Bildern seliger Vergangenheit

die drei letzten zeilen von den reimelementen geradezu ausgehöhlt, wie das gesetz vom delinquenten. was dem stümper das alibi, ein wohlfeiler klingklang, ist dem kenner der verdacht. reim also ein mordendes, kriminelles element, das sowohl einem gedanken wie der poesie als ganzer den rest gibt. die verbindung zwischen entschlafen und dem hafen ist nicht die (kürzeste) zweier gedanken, sondern es gibt gar keinen gedanken, der vom wörtchen entschlafen zum hafen führt. glück und leid verkommen tatsächlich in diesem konstrukt zu einer auf brüchigen krücken stehenden floskel. infolge dieser vorgänge binnen zweier zeilen sind die bilder seliger vergangenheit nichts als erbärmliche almosen, die man der zerlumpten bettlerin poesie vor die füsse wirft. -

Ernst Stadler

Dämmerung in der Stadt (1911)

Der Abend spricht mit lindem Schmeichelwort die Gassen
In Schlummer und der Süße alter Wiegenlieder,
Die Dämmerung hat breit mit hüllendem Gefieder
Ein Riesenvogel sich auf blaue Firste hingelassen.

Nun hat das Dunkel von den Fenstern allen Glanz gerissen,
Die eben noch beströmt wie veilchenfarbne Spiegel standen,
Die Häuser sind im Grau, durch das die ersten Lichter branden
Wie Rümpfe großer Schiffe, die im Meer die Nachtsignale hissen.

In späten Himmel tauchen Türme zart und ohne Schwere,
Die Ufer hütend, die im Schoß der kühlen Schatten schlafen,
Nun schwimmt die Nacht auf dunkel starrender Galeere
Mit schwarzem Segel lautlos in den lichtgepflügten Hafen.

der unverwechselbare duktus, die sprachmelodie und die fosforeszierende stimmung dieses gedichts weisen ernst stadler als grossen lyriker aus. immense vorstellungskraft, traumhaftes sinnenspiel, berückender wohlklang. diese strofen atmen, schweben, schimmern. sie sind von einer untergründigen kraft durchtränkt, von geheimnis und gleichnis umwittert, von tiefen gefühlen durchströmt. keine abgegriffene metafer, kein ausgeleierter ton. ein stiller, nie zuvor erlebter, verklärender rausch, ganz persönliche, schöpferische, hochsensible komposition und ein vokabular, das in dieser besonderen prägung vorher noch nicht war.

poesie entsteht aus dem noch nicht bekannten, nährt sich von ahnung, die sich zu einem gedanken, einem bilde formt und fügt. sie belebt, bereichert, erfrischt stimmungsvoll die sprache, die umso persönlicher, künstlerischer wirkt, je mehr diese erzeugung gelingt. wie die predigende, missionierende religion die selbstfindung des menschen, seine personelle identität und seinen integren gefühls- und gedankenhaushalt im keime erstickt, junges blut schon ab dem ersten tage anfixt und vergiftet mit gestrecktem, lebensgefährdendem gift, durch starre, fixe, autoritär eingehämmerte, einfürallemal feststehende dogmen verdirbt, mit frasen verwässert und floskeln zersetzt, so haben die allermeisten gedichte deutscher sprache die funktion eines rituellen gebetes, kniefälliger bestätigung und mild abgeschreckter verfestigung herrschender doktrin, einer dummachenden propaganda und wirken deshalb so häufig verkitscht und verbohrt, so unausstehlich verlogen und betrogen. ihr umweltbelastender ausstoss hat sich deshalb durchgesetzt, ihre impertinente drehleier missklingt daher in aller ohren und aus aller munde, weil sie der verbreitung des süsslichsten, verkümmertsten, verbohrtesten christenkitsches haargenau entspricht.

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