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schandfleck.ch_textkritik/2007/mai
david manuel kern
 
daniel costantino

Friedrich Dürrenmatt - Justiz

david manuel kern:
Auf Anraten eines Kollegens in Sachen Literatur stehe ich nun vor der herausfordernden und doch zugleich aussichtslosen Aufgabe, eine Textkritik aus dem Ärmel zu schütteln, die sich unweigerlich mit einer poetischen Niederschrift befassen soll, dessen Lektüre einige Monate in vergangene Ferne rückte. Wie gehe ich vor? Ich wage einen ängstlichen Blick in die stete Richtung meiner angesammelten und vor jeglichem Staubanfall geschützten Bücher, lasse die ehrfürchtigen Augen schweifen, sinniere nach der heiligen Unordnung und entdecke mit Müh und Not einen unscheinbaren weißen Buchrücken, der mir das Ziel meiner Anstrengung zu offenbaren imstande ist. Ich betaste, befühle, berieche, betraue mich, nehme das Werk aus seinem zugestandenen archivarischen Platz und lege es sachte vor mir auf den schwarzen Tisch, der seit Jahr und Tag meine innigste Stütze. Und so erkenne ich, dass auf den zweiten, genaueren Blick die Unscheinbarkeit mitnichten unscheinbar ist: Der Buchumschlag, in seiner diogeneshaften Erscheinung, zeigt eine selbstangefertigte Zeichnung des Dichters, wie ich den ersten Seiten entnehme: verformte Menschen getaucht in eine Farbenmischung von Grünem und Blauem, einer Katastrophe nahend, in einer skurrilen, ausschnitthaften Planetenwelt; dies alles vereinigt unter dem Titel "Die Astronomen". Der Zeichner: Friedrich Dürrenmatt. Der Roman: Justiz.
Das ist alles, worüber ich mir im Moment gewiss bin.
Also weiter: Wie gehe ich vor? Mir fällt ein: die Notizen. Ich weiß, ich habe mir Notizen gemacht beim Lesen, weil ich schnell in Vergessenheit gerate. Allein, wo sind sie? Das Nächstliegende wäre zwischen den Seiten des Buches, also schlage ich es sachte auf, eine Seite um die andere, gerate schon zwischen die Zeilen, als ein Blatt Papier seinen Ernährer verlassend auf den Tisch gleitet: meine Notizen. Und plötzlich, beim Betrachten meines Gekritzelten, Labyrinthischen, Missverständlichen, fällt mir mein in vornehmes Braun gehaltene Notizbuch ein, das, wenn ich keinem selbstauferlegten Irrtum aufsitze, um nichts weniger Aufzeichnungen über den vorliegenden Roman enthalten muss, vorausgesetzt es will nicht der Bedeutungslosigkeit verfallen. Schon beim ersten Blick tut es dies nicht.
Nun kann ich beginnen, nun sei jeder federnder Rückzug obsolet.

Um klare Verhältnisse zu schaffen, ich halte dieses Buch für grandios, für eines der besten Dürrenmatts. Der Leser, auch der geübte, wird sofort in seinen Bann gezogen, muss der verworrenen Geschichte folgen, um seinen Schlaf des Beruhigten zu stillen, wird nicht davon ablassen, bis er zum Eingeweihten wird, bis er verschmelzt mit dem Erzähler über dessen Tod hinaus. Vieles Ausgesprochene, Behandelte gewinnt durch Zeitsprünge, raffinierte Vor- und Rückblenden erst im Laufe der Geschichte an Klarheit, was nicht nur die Durchdachtheit der Geschichte erkennen lässt, sondern auch zur lektürenhaften Vergnüglichkeit beiträgt. Dürrenmatt beherrscht es ausgezeichnet, die narrative Balance zu halten zwischen einer Handlung, die an durchdachter Komplexität nichts ferner zu wünschen übrig lässt, und einer reflexiven Begabtheit, die sonst schwerlich zu finden ist in zu Vergleichbarkeit geeigneter Literatur.
Die sich wiederholenden und so Stimmung schaffenden Hinweise auf die für die Geschichte und seiner Literarizität essentiellen und nothaften Unterscheidbarkeit von Roman und Bericht geben eine Qualität wieder, die durch ihren ansatzweisen literaturtheoretischen Charakter das Werk zu einem potentiellen Untersuchungsgegenstand macht: Wenn ich diese Gespräche wiederzugeben versuche - "mögliche", weil ich ihnen nicht persönlich beigewohnt habe -, so geschieht es nicht in der Absicht, einen Roman zu schrieben. Es geschieht aus der Notwendigkeit, ein Geschehen so getreu wie möglich aufzuzeichnen (...). Hier kommt der erste von drei wichtigen Aspekten zum Vorschein: Wenn Dürrenmatt als Verfasser einzelnen Gesprächen das Adjektiv "möglich" voransetzt, hebt er die übliche erzählerische Auktorialität auf und gibt dem Leser zu verstehen, dass der allumfassenden Gottperspektive jegliche Relevanz zu entziehen ist. Dies macht den Roman zu einer Art fiktionalen Eventualität, der die Wirklichkeit jederzeit vorgeschoben werden kann; und reiht den Schweizer Dichter ganz nahe an den großen Meister Frisch.
Der zweite bedeutende Aspekt des Texts geht einher mit dem erstgenannten, der nebulösen Spielart von Wirklichkeit und Möglichkeit, und findet Ansatz in der konkreten Handlung der Geschehnisse: Der stadtweit bekannte, geschätzte und für seine Weltgewandheit und seinen finanziellen Reichtum respektierte Kantonsrat Dr.h.c. Isaak Kohler begeht en passant eines Abends in einem gefüllten Schweizer Kaffeehaus einen kaltblütigen Mord, indem er den philosophischen Professor Adolf Winter erschießt. Mit dieser Tat eröffnet sich ein kammerschauspielhafter Reigen, dessen Beabsichtigung nur eines zur Folge hat: Das Motiv des Isaak Kohler: Der Kommandant wußte nicht, was er antworten sollte, war verwirrt, ärgerte sich. Der Mörder dagegen war geradezu heiter geworden, lachte mehrere Male leise vor sich hin, schien sich auf eine unbegreifliche Weise zu amüsieren. "Nun. Warum hast du den Professor ermordet?" begann der Kommandant aufs neue hartnäckig zu fragen, eindringlich, wischte sich wieder den Schweiß aus dem Nacken und von der Stirn. "Ich habe keinen Grund", gestand der Kantonsrat.
Und so ergattert sich der etwas abgebrannte und sich im Alkohol suhlende Rechtsanwalt Felix Spät, der Icherzähler der Geschichte, den Fall und sucht unersättlich, auf endlichen beruflichen Erfolg spähend, die brennenden Antworten auf die ebenso brennenden Fragen. Bei einem Treffen zwischen Spät und Kohler in dessen Gefängniszimmer eröffnen sich die grundlegenden Probleme des Buchs. Der Mörder engagiert Spät, einen Auftrag zu übernehmen: "Sie sollen meinen Fall unter der Annahme neu untersuchen, ich sei nicht der Mörder gewesen." (...) "Sie sollen ja auch nicht die Wirklichkeit untersuchen, (...), sondern eine der Möglichkeiten, die hinter der Wirklichkeit stehen. Sehn Sie, lieber Spät, die Wirklichkeit kennen wir ja nun, dafür sitze ich hier und flechte Körbe, aber das Mögliche kennen wir kaum. Begreiflich. Das Mögliche ist beinahe unendlich, das Wirkliche streng begrenzt, weil doch nur eine von allen Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden kann. Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, daß wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mögliche vorzustoßen."
Dass Spät seiner Handlungen nicht Herr zu werden weiß und es bald nur noch zwei mögliche Konsequenzen geben kann, zeigt die berichtverstärkende direkte Ansprache an den Staatsanwalt: Endlich, denn Sie werden es mit Interesse lesen und anstreichen. Sie: Ganz recht, damit sind Sie gemeint, Herr Staatsanwalt Joachim Feuser. Zucken Sie nur ruhig zusammen. Warum nicht persönlich werden, als Nachfolger Jämmerlins werden Sie ja doch nach dem Kommandanten diese Zeilen als zweiter lesen - was Sie hiermit auch tun -, und es bereitet mir in diesem Augenblick einen Höllenspaß - wahrscheinlich im doppelten Sinne des Wortes -, Sie gleichsam vom Jenseits her zu grüßen. (...) Eben haben Sie mich ordnungshalber in der Leichenhalle besichtigt, in Ihrem hellen Regenmantel, den Hut höflicherweise in der Hand und die Miene amtlich düster, der Selbstmord ist sauber durchgeführt, das müssen Sie zugeben, aber auch bei Kohler habe ich kunstgerechte Arbeit geleistet, es sieht sehr feierlich aus, wir beide so nebeneinander.
Späts Scheitern Kohlers fiktive Unschuld betreffend, die tatsächliche Freilassung Kohlers, der Mord und der Selbstmord in unmittelbarer Folge geben diesem berichtenden Roman oder romanhaften Bericht einen abseits der gesellschaftskritischen und literaturtheoretischen Überlegungen einen ernstzunehmend vergnüglichen und unterhaltsamen Charakter. Hinzu kommt eine gekonnte sprachliche Raffinesse, die dem Autor von diversen und im Grunde zweitrangigen Kriminalgrotesken nicht selbstverständlich zugeordnet werden kann. Die beispiellosen Beschreibungen der einzelnen, völlig eigenständigen burlesken Figuren verlangen die Anerkennung einer brillanten Eindringlichkeit: Schönbächler liebte Symphonien. Seine Theorie (er war voller Theorien): Symphonien zwängen am wenigsten zum Mithören, man könne dazu gähnen, essen, lesen, schlafen, Gespräche führen usw., in ihnen hebe die Musik sich selber auf, werde unhörbar wie die Musik der Sphären. Den Konzertsaal lehnte er als barbarisch ab. Er mache aus der Musik einen Kult. Nur als Hintergrundmusik sei die Symphonie statthaft, behauptete er, nur als "Fond" sei sie etwas Humanes und nicht etwas Vergewaltigendes, so habe er die Neunte Beethoven erst begriffen, als er dazu einen Potaufeu gegessen habe, zu Brahms empfahl er Kreuzworträtsel, auch Wiener Schnitzel seien möglich, zu Bruckner Jassen oder Pokern. Am besten jedoch sei es, gleich zwei Symphonien gleichzeitig laufen zu lassen.
Den dritten Punkt widme ich Dürrenmatts Unbehagen gegenüber seinem Vaterland. Den ganzen Roman hindurch lassen sich Hinweise auf die schweizerische Lebensart und dessen unkritischen Umgang mit hierarchischen Strukturen erkennen. Doch der Autor bleibt verhalten; nüchtern, ironisch und leicht abschätzig konsultiert er: Land und Leute: (...) Alles ist miteinander verflochten: Gegründet wurde das Unternehmen, welches sich bald unser Staat, bald unser Vaterland nennt, vor etwas mehr als zwanzig Generationen, grob gerechnet. Ort: Zuerst spielte sich alles der Hauptsache nach im Kalk, Granit und in der Molasse ab, später kam Tertiäres hinzu. Klima: leidlich. Zeit: Zuerst mittelmäßig, die habsburgische Hausmacht braute sich zusammen, viel Faustrecht, es galt sich durchzuprügeln, und man prügelte sich durch, knackte Ritter, Klöster und Burgen wie Panzerschränke, gewaltige Plünderungen, Beute, Gefangene wurden keine gemacht, vor den Schlachten Gebet und nach dem Gemetzel Orgien, enorme Saufereien (...) nach kaum acht Generationen schon der berühmte Rückzug, von da noch weitere sieben Generationen relative Wildheit, teils mordete man sich nun untereinander, unterjochte Bauern (mit der Freiheit nahm man es nie so genau) und schlug sich um die Religion (...) Man mauserte sich dann durch zwei Weltkriege, manövrierte zwischen Bestien, kam immer wieder davon.

Meine spärlichen Notizen nähern sich dem Ende. Behutsam schließe ich das Buch, erblicke noch einmal die Zeichnung und reihe es schließlich wieder ein in die großen Klugheiten unserer und vergangner Tage. Das in vornehmes Braun gehaltene Notizbuch wird an seinen Platz gelegt, die Notizen selbst vernichtet.
Ein weiteres Mal wurde ich Zeuge großer Begebenheiten, ein weiteres Mal eine Anteilnahme von den unendlichen Wirklichkeiten dieser Welt.
Dürrenmatt hat mit Justiz einen großen Roman geschrieben, der nicht übersehen werden darf im Dickicht der belanglosen Heiterkeitstexte.


Friedrich Dürrenmatt: Justiz. Zürich: Diogenes Verlag 1985.

daniel costantino:
als junger mensch, autoritär erzogen zuhause und in der schule, durch kindheit und adoleszenz permanent angehalten, zu loben, zu glauben, zu lieben, was gepriesen und bewiesen war, doch im kern kriminell, betrogen, verlogen, korrupt; als einer, auf den man mit befehlen ballerte, dem man mit spitzen pfeilen die haut durchlöcherte und benimm in die adern spritzte, den man durch bildung, regeln, zensuren zu einem brauchbaren, händelbaren, rentablen menschen dressieren wollte; der, plötzlich erwachsen und in die welt gestellt, in die freiheit entlassen, wie er hoffte, erst nach und nach begriff, wie sich die dinge eigentlich verhielten, von konträren ansichten hörte, widerstand erkannte - als solcher mensch war ich von dürrenmatt begeistert.
und ich mag ihn immer noch, imgrunde, den alten fritz, obschon er meine ansprüche an dichtung und poesie längst nicht mehr, die an logisch konstruierte filosofische gedankengebäude nur noch zum teil erfüllen kann. was ich, heute, von seiner sprache halte, habe ich des breiten dargestellt:

http://www.schandfleck.ch/textkritik/duerrenmatt.html

und möchte mich nicht zu weitschweifig wiederholen. indes sei im folgenden auf deine beurteilung von 'justiz', im sinne eines herausfordernden kollegialen disputs, mit freude eingegangen.

'eine poetische niederschrift', lese ich gleich zu beginn. ein grosses wort, das aber nicht weiter definiert wird. ich halte poesie für höchste sprachkunst, sprachschöpfung, für steigerung des empfindens, verlebendigung des gesagten, für eine irrationale, künstlerische komponente des schreibens. davon spüre und sehe ich im gesamten prosawerk dürrenmatts nichts. es interessierten mich daher einige beispiele, wo du poesie zu erkennen vermagst.
die durchdachtheit der geschichte, da stimme ich zu, ist gelungen, hervorragend. auch mir gefallen die zeitsprünge und rückblenden. dürrenmatt dafür zu loben, halte ich für richtig, aber: es handelt sich hier erst bloss um ein logisches gerüst, um die konstruktion, die mustergültig errichtet ist. wenn zwei autoren denselben dichterischen rang einnehmen, ihre sprachkunst ebenbürtig erscheint, so ist in der bewertung dem der vorzug zu geben, der die bessere, dem tema adäquatere konstruktion bietet oder dem, der wesentlicheres zu sagen hat. das sind für mich jedoch sekundäre kriterien. entscheidend für den rang eines dichters, ja dafür, ob ich ihm den titel überhaupt zugestehe, ist alleine seine sprache, also die art und weise, wie ein schriftsteller sprachlich gestaltet, wie er etwas sagt. und hier eben, behaupte ich, bleibt dürrenmatt konventionell und rational. ein punkt, auf den wir gerne näher eingehen können, ich verweise auf meine schon erwähnte abhandlung.
die gesellschaftskritischen überlegungen dürrenmatts lese ich, wahrscheinlich wie du, ebenfalls mit vergnügen. nicht selten habe ich mich sehr amüsiert. es gibt auch witzige pointen, zum beispiel die einlagen mit dem christlichen gesangsverein. aber wie ernst sind seine gesellschaftskritischen überlegungen zu nehmen? hier eine stelle, die auch du zitierst, unter 'unbehagen gegenüber seinem vaterland' - gewiss ein gesellschaftskritisches tema, das dürrenmatt in seinem werk immer und immer wieder aufgreift. die abschnitte: land und leute und gleich darauf folgend: gegenwart (1957 n. chr.), seiten 34 bis 37 in meiner diogenesausgabe.
meine überlegungen dazu:
zu einem mord gehört auch die mittlere jahrestemperatur, gehören erdbebenhäufigkeit und menschliches klima, steht zu lesen. ja, das ist witzig, kurz gelacht und weitergelesen. ernstnehmen könnte man nur das 'menschliche klima', aber in diesem kontext, beiläufig erwähnt wie die erdbeben, bleibt es so dahingesagt. nichts vertiefendes also. die geologischen gegebenheiten im stile eines schüleraufsatzes zusammengefasst. dann: man prügelte sich durch: belebt, witzig, aber oberflächlich. plünderungen, beute, sauforgien. eine alternatvidarstellung zum geschichtsunterricht, gewiss, der nationalist schäumt, der sozialist kichert. aber substanz? 'relative wildheit', 'man mordete sich nun untereinander' (was man zuvor allerdings auch schon getan), man wird nun 'aus der ferne zusammengetätscht' (treffender helvetismus), man 'schlug sich um die religion', 'gab sein blut dem meistbietenden' - naja, schön und gut, aber entlarvung der macht? ernstzunehmender diskurs? nein, schlagworte, nichts weiter, kolportage. das verdienst dürrenmatts liegt darin, die heuchler aufgeschreckt zu haben. er macht ein bisschen lärm und motzt herum. er verletzt den bürgerlichen anstand, das ist was zum einreiben, auch für einen wie mich, aber ernstzunehmen? vertieft er irgendwo, irgendwie, dass im namen gottes und der religion zum krieg gehetzt wurde und wird? erklärt er, wie das immer hat funktionieren können, klärt er auf? entlarvt er die rede von der freiheit als lüge, urlüge, sagt er, dass man die dummen mit der parole nur einfing und einfängt, indem man ihnen angst vor dem niedergang, vor dem untergang einjagt? entblösst er die panikmache als herrschaftsprinzip? 'mit der freiheit nahm man es nie so genau'!
'man schlug sich um die religion' - ja, aber wurde man vielleicht indoktriniert, entmündigt, aufgehetzt? man 'betrieb söldnerei im grossen stil' - ja, die nichts zu fressen und wenig zum schnaufen hatten, wurden von den gnädigen herren an die fürsten verkauft, im staate bern gangundgäbe. wer kommt schon zur welt, sein blut den meistbietenden zu verkaufen, wie das 'man' suggeriert? lese ich was davon, dass man in kriegsdienste gepresst wurde und wird? unter androhung, gerade auch damals, der todesstrafe, des entzugs von besitz, der ächtung der familie bis in die x.te generation? 'endlich' die französische revolution! nieder mit dem 'verrotteten system von gottesgnaden'? hehe, und dieser kaiser, in notre-dame in anwesenheit des papstes gekrönt, im mailänder dom mit der eisernen krone der langobarden gekürt, wäre nicht selbst ein gottesgnädeler gewesen? welche türen will der autor einrennen? des weitern erzählt er von allbekanntem (bei uns, abteilung schulwissen): vom lyriker von salis-seewis, der general gewesen, das wissen wir, die 'niederlagen taten gut', wissen wir auch, haben wir gebüffelt und gelernt, der pestalozzi, genau, aber wer weiss denn wirklich genaueres, die 'radikale wende zu geschäft und gewerbe' - war sie so redikal? ich stamme, frei von stolz, aber drum weiss ichs, aus einer berner zunft, deren angehörige sich schon im mittelalter durch geld und gewerbe vorrechte erstritten, gegen die adligen, zinsgeschäfte tätigten, besitz akkumulierten, nur geschäft im sinne hatten. dürrenmatt, berner wie ich, dürfte die geschichte bekannt gewesen sein. er geht locker darüber hinweg. 'radikale wende zu geschäft und gewerbe'! dieser kleinkarierte ellbogenbürgergeist war doch nichts neues! 'alles musste rentieren', als wäre da was andres gewesen zuvor. hier, finde ich, verklärt dürrenmatt mit seiner saloppen art die geschichte. ein allgemeiner brauch gerade unter intellektuellen hierzulande: die mystifizierung, glorifizierung der 1848-er jahre, der zeit der staatsgründung! er kolportiert genau das schulwissen, sich fortschrittlich gebende scheinwissen, das ihm eingetrichtert wurde. wahrscheinlich, ich halte es ihm zugute, will er das garnicht. aber man muss schon etwas tiefer schürfen, um diesen dingen auf die spur zu kommen. er bleibt an der oberfläche und schnappt nach ein paar wohlfeilen bissen. zum aufklärer, zum brauchbaren kritiker, taugt er nun einmal nicht.
'von den myten her droht kurzschlussgefahr'; 'die sage der kriegerischen väter kommt hoch' - sehr, sehr beliebige formulierungen. dass man sich 'zu widerstandskämpfern umdichtet', nach '45, geht aus dem zusammenhang hervor - eine allgemeine erkenntnis. aber nicht sehr genau: von 'umdichten' kann keine rede sein. dürrenmatt, jahrgang 1921, müsste es besser wissen. man hat dem volk auch '33-'45 diese dichtung glauben gemacht, und nicht zu knapp. man tat es ebenso im ersten weltkrieg. unser land 'von der geschichte abgetreten, als es ins grosse geschäft eintrat' - was soll ich mit der floskel 'von der geschichte abgetreten'?
neinnein, das ist alles zu unselbständiges denken. dürrenmatt als grossen gesellschaftskritiker hinzustellen fände ich lächerlich.

grosse klugheiten? dann nimm deinen nietzsche zur hand. das ist gross. oder wenn du einen zeitgenossen dürrenmatts willst: canetti, 'masse und macht'. in analyse und kritik verblasst im verlgeich sämtliches von dürrenmatt. von der überragenden sprachkunst nietzsches noch zu schweigen. und vom grossartigen deutsch canettis ebenso.
zur 'nebulösen spielart von wirklichkeit und möglichkeit': die wirklichkeit als ein sonderfall des möglichen. die wirklichkeit als eine wahrscheinlichkeit in einer unsumme von wahrscheinlichkeiten, jede für sich genommen eine unwahrscheinlichkeit. die wirklichkeit ist eine unwahrscheinlichkeit, die eingetreten ist. ich glaube, so hat ers in den 'stoffen' formuliert, und 'justiz' entspricht genau dieser filosofie, ist ihre umsetzung und durchführung. dies gelingt ihm ohne jeden zweifel hervorragend, ist auch in andern büchern sein markenzeichen, ein in sich stimmiges system konsequent abzuhandeln, etwa im kriminalroman 'der richter und sein henker' oder auch in seinen essays. es bereitet mitunter grossen spass, diese sachen zu lesen, manches wirkt dadurch grotesk, fantastisch, durchtrieben. aber es sind rein matematisch-abstrakte, rationale gedankenspiele, ins sinnliche und atmosfärische, zur dichtung dringt dürrenmatt damit nicht vor, zu sehr bleibt er filosof, intellektueller, bleibt seine prosa konstatierend, das werk eines gedankenschlossers, eines oft witzigen, überbordenden, einfallsreichen, aber eben nicht eines dichters. ein dichter ergösse sich nicht in dermassen viele gemeinplätze, gestelztheiten, klischierungen wie dürrenmatt, bei aller ironie wirken seine figuren mehr wie tokkel als wie menschen, und einen persönlichen daumenabdruck hinterlässt seine schreibe keinesfalls. manches eingängige erscheint auf den ersten blick gut, amüsant, flott, aber beim zweiten lesen verliert die sache, fehlt dann doch die poetische substanz, vermisst man seelenspannung, und das rein intellektuelle abenteuer ist auch schon bekannt und gewinnt nicht mehr dazu.
ist es nicht im übrigen eine sehr platte vorstellung der realität, die dürrenmatt zum besten gibt? wäre nicht zu hinterfragen (und damit erst recht auf dürrenmattsche art zu jonglieren), was realität denn eigentlich sei, ja, ob der begriff noch etwas bezeichnen kann oder alles und nichts besagt? als ob allen, als ob überhaupt klar wäre, was realität eigentlich sei. ich sage dir, nichts ist nebulöser. die börsenkurse? gerechtigkeit? die geschichte?
vom 'meister' frisch zu lesen, schmerzt. was mir auffällt, ist die zeitweilige grosse ähnlichkeit des stils, ungewöhnlich bei dürrenmatt. er hat seine etwas linkische, unbeholfene art zu schreiben aufgegeben, zu seinem vorteil, und tönt jetzt oft genau wie frisch. lies mal die seiten 44 ff ('unser zuchthaus') - könnte diese sprache nicht aus dem 'stiller' stammen? auch dieser punkt spricht gegen dürrenmatt als dichter und entlarvt ihn als einen imitator. (wobei auch frischs sprache keine originäre ist). du hast recht - keine dürrenmatt-typische sprache mancherorts, eigentlich durchs ganze buch hindurch, mehr oder weniger. andrerseits widerspreche ich erstens deiner anmerkung, dürrenmatt habe 'diverse' kriminalgrotesken geschrieben. falls du 'justiz' dazurechnest, hat er insgesamt drei geschrieben, zuvor also genau zwei, und zwar als auftragsarbeiten am anfange seiner schriftstellerlaufbahn, in den 50iger jahren. sie gehören aber, wie 'justiz', zum besten dürrenmattscher prosa, die hier noch nicht so linkisch ist wie später, und sind weder für seine gesamte prosa wie auch als krimis nicht zweitrangig (denn wer erwartet grosse literatur in einem kriminalroman, nicht wahr?).
ich vergnüge mich durchaus mit bescheidener literatur, lese und höre manches grosse nicht oder wenig, weil es meinen geschmack nicht trifft oder meine stimmung nach etwas andrem verlangt. bruckner etwa kann mir gestohlen sein, ebenso mozart. ich höre häufiger und lieber zum beispiel einen schlager. aber ich würde niemals einen gassenhauer als bedeutende musik hinstellen wollen und halte die beiden komponisten für grosse künstler. will damit sagen: über geschmack lässt sich nicht streiten. mir gefällt 'justiz'. der roman hat aber mit grosser literatur nichts zu tun. vielleicht ausführlicher in einer nächsten runde, wenn du lust hast, ich will meinen beitrag umfangmässig auf deinen abstimmen. habe noch einiges über den roman im köcher (die notizen!), schlechtes und aber auch, höre, gutes!

david manuel kern:
Ein "kollegialer disput" veranlasst mich, erneut meine spärlichen und eigentlich längst dem Feuer übergebenen Notizen herauszukramen, aus dem Hinterkopf zu holen, die Gedanken wiederum schweifen zu lassen, kreisen zu lassen bis sie sich vereinigend gefunden haben auf dem vermeintlich unscheinbaren Deckel des hier zum Thema erkorenen Buches. Noch immer sind es "Die Astronauten", noch immer ist es Justiz.
Du, ja ich spreche dich nun geradewegs heraus an, du, der du weißt um deine stets gelungene handwerkliche Auseinandersetzung mit konträren Ansichten von philosophischem und literarischem Anspruch. Aber ich weiß auch um meine. So kann ich nun von neuem beginnen, nun sei jeder dolchender Rückzug obsolet. Lieber Daniel also.
Ich sprach von einer "poetischen Niederschrift" zu Beginn meiner Antrittsrede. Doch man bemerkt bei genauerem Hinsehen, dass rund um dieses Wort der Titel des Romans noch nicht gefallen ist. Denn nicht bloß Justiz meinte ich mit meiner Poesie, sondern alle Texte, die sich nicht mit Einkaufsangelegenheiten, Rechnungsausgleichungen, mathematische Formelkonstruktprobleme, Unterschriften, Preisschilder, Kachelöfentypbenennungen und Waschgradangaben beschäftigen. Also jene Texte, die sich bewusst sprachlich mit einer Welt auseinandersetzen. Die "poetische Niederschrift" nährt sich durch formale Bestrebungen, nicht durch urteilende. Ich halte Poesie nicht "für höchste Sprachkunst" sondern für bewussten Sprachumgang. Deiner Poesie entspricht das Wort Goethes, Nietzsches, Nizons, Roths, Cendrars. Poesie also muss sich erst verdienen, muss erlangt werden durch eine gewisse "irrationale, künstlerische Komponente". Um mit deiner wertenden Definition zu sprechen, gebe ich dir Recht und schließe mich deiner Ansicht an: Dürrenmatt strömt keine "Poesie" aus. Wir reden aneinander vorbei.
Zum weiteren möchte ich kurz auf deine poetologischen Theorien eingehen. "entscheidend für den rang eines dichters (...) ist alleine seine sprache." Das stilistische und sprachliche Ausdrucksvermögen eines Autors ist naturgemäß in der Literatur von immenser Bedeutung. Immer wieder stolpert man als Leser über Dichter und deren Werke, dessen Geschichten an sich völlig unerheblich erscheinen. Wenn aber nun die Sprache, die diese Geschichten erfassen will, eine pointierte, gelungene, herausragende ist, so neigt man dazu, an der hintangestellten Handlung hinwegzusehen. Mir fallen an dieser Stelle die späten Werke Peter Handkes ein, etwa Mein Jahr in der Niemandsbucht dessen innovative Sprache an ein literarisches Wunder grenzt, dessen Ereignisse jedoch zweitrangig sind beziehungsweise bedarf es einer immensen Schwierigkeit, ihnen handlungslogisch relevant zu folgen. Doch gehe ich in all den Überlegungen nicht so weit zu behaupten, die Handlung eines Romans wäre unerheblich. Denn du erklärst an einer anderen Stelle, du würdest eine Geschichte unkritisch und unhinterfragt hinnehmen und dich auf die Sprache, die diese Geschichte formt, konzentrieren. Also welche Sprache entwirft die Geschichte. Und nicht welche Sprache entwirft welche Geschichte. Es gebe genug Exempel, die Legitimität dieser Auffassung ins Schwanken zu bringen. Ich denke an Witold Gombrowitz, dessen Roman Die Besessenen von solcher Trivialität ist, dass es auf den ersten Blick ein Fehler wäre, weitere Romane von diesem indessen großartigen Schriftsteller zu lesen. Die Besessenen handelt von einem jungen Mann, der ein Schloss besucht, um dort einige Zeit als Tennislehrer sein Geld zu verdienen. Weitere Figuren sind eine junge Frau (beide verlieben sich mit diversen vorhersehbaren Schwierigkeiten ineinander), ein halb eifersüchtiger und halb geldversessener Verlobter, ein undurchdringliches Schloss, ein wahnsinniger, kunstraubender Schlossbesitzer. Die Vorhersehbarkeit der Handlung beschämt jeden geübten Leser und ist gleichzusetzen mit den massenhaft erfolgreichen Heftchenromanen. Und doch schafft es Gombrowitz, eine eigenständige und nicht uninteressante Sprache zu kreieren, die die Geduld am Roman nicht schon in den ersten zehn Seiten platzen lässt (erst ab den fünfzigsten Seiten). Aber es gibt auch umgekehrte Beispiele. Während die einen auf einen sogenannten Nullpunkt in der Literatur der unmittelbaren deutschen Nachkriegszeit bestanden, konnten die anderen nicht umhin, das Gräuel und Elend der Kriegszeiten literarisch verzweifelnd zu behandeln. Einer unter ihnen war Wolfgang Borchert mit seinem Stück Draußen vor der Tür, das sprachlich in keinem Verhältnis zu seiner inhaltlichen Aussagekraft steht. Ebenso wie Franz Innerhofers Schöne Tage, dessen Subjektivität das grauenhafte Landleben in Österreich der späteren Nachkriegszeit beleuchtet.
Im Übrigen: Ich erlebe Dürrenmatts Sprache nicht als konventionell, zumindest nicht in Justiz. Seine überschätzten Kriminalromane Der Richter und sein Henker, Der Pensionierte, Der Verdacht sind über und über voll mit Unoriginalität, das Gerede ist augenscheinlich abgekupfert von den amerikanischen hard-boiled-Krimis etwa eines Dashiell Hammett. Justiz aber kann hausieren gehen mit Sätzen wie diese: Er lachte in sich hinein, irgendetwas schien ihn ungemein zu amüsieren, trank und fuhr fort, ob er je mir seine Lebensgeschichte erzählt habe. Nein? Wozu auch. Schön. Er sei der Sohn eines Bergbauern, und seine Familie nenne sich Stüssi-Leupin, um nicht mit den Stüssi-Bierlin verwechselt zu werden, mit denen seine Familie seit Menschengedenken in einem Streit um einen Kartoffelacker liege, der so steil sei, daß sie ihn jedes Jahr wieder heraufbuckeln müßten, und das oft mehrere Male, der, habe man Glück, die Kartoffeln für drei, vier Röstis liefere, und dennoch werde um dessentwillen prozessiert, geprügelt und gemordet. Noch jetzt. Kurz und gut, junger Kollege, nach seinem Studum habe er sich gleich in seinem Heimatdorf als Rechtsanwalt angesiedelt, im Stüssi-Dorf, wie es genannt werde, seien doch nicht nur die Stüssi-Leupin mit den Stüssi-Bierlin, sondern auch die Stüssi-Moosi mit den Stüssi-Sütterlin verfeindet und so die ganzen Stüssis hindurch, doch das sei nur am Anfang gewesen, bei der Dorfgründung sozusagen, wenn es so je eine gegeben habe, heute sei jede Stüssi-Familie mit jeder anderen verkracht. Und in diesem Bergnest, Spät, in diesem Genist von Familienzwist, Mord, Inzest, Meineid, Diebstahl, Unterschlagung und Verleumdung habe er seine Lehrjahre als Bauernanwalt durchgemacht, als Fürsprecher, wie dort die Leute sagen, nicht um die Justiz in dieses Tal einzuführen, sondern um sie von ihm fernzuhalten, ein Bauer, der einen Unfall seiner Alten vortäusche und seine Magd heirate, oder eine Bäuerin den Knecht, nachdem sie ihren Alten mit Arsen auf den Friedhof gezaubert habe, nützten auf ihren Höfen mehr als im Gefängnis. Leere Gefängnisse kosteten den Statt weniger als volle, leere Bauernhöfe, und die Matten verfilzten und die Heimaterde rutsche ins Tal. Hier wird keine Lyrik gemacht, keine Poesie im konservativen Sinn. Diese von Dürrenmatt bewusst verwendete Sprache verschmilzt perfekt mit der Handlung und ihrer Intention; ein weiteres Indiz dafür, nicht die Geschichte zu vernachlässigen.
Du schreibst über "das menschliche klima", das im Kontext Beiläufigkeit erfährt jedoch nichts "vertiefendes". Literatur aber lebt von Lehrstellen, die die Leser auszufüllen verpflichtet sind, lebt von Konnotationen, die nicht immer ausgesprochen werden können. Dies ist das Spannende, zu dem unter anderem Literatur imstande ist. Es gibt keine definitive Lesart, kein definitive Interpretation eines Werks. Der Leser nimmt einen Text an und verbindet ihn mit seiner höchst subjektiven Wirklichkeit. Somit entsteht eine Heterogenität, die die Vielzahl des literarischen (Innen-)Lebens ausmacht. Wenn das "menschliche klima" als menschliches Klima stehenbleibt, nichts hinzugefügt wird, um dem Lesenden alle ihm offenstehenden Freiheiten und Gedankenmöglichkeiten zu bieten, kann man nicht von Oberflächlichkeit sprechen. "enstzunehmender diskurs" wäre hier völlig fehl am Platz, schlicht und einfach nicht angebracht. Wir haben keinen Hegel vor uns, der uns jeden Schritt in einer immensen Fülle von Sprachlichkeit enthüllt. Dürrenmatts Absicht war es nicht, eine Abhandlung über "die entlarvung der macht" zu geben; er wollte streifen, kokettieren, Ansätze anbieten. Nichts weiter. Um einer solchen Abhandlung gerecht zu werden, bedarf es Anderes. Um durch eine solche Abhandlung wissenschaftliche Befriedigung zu erlangen, der greife zu Canettis Masse und Macht. Ich aber, der in unserem Fall spannende und intelligente und sprachlich aufregende Literatur lesen möchte, begnüge mich mit voller Selbstsicherheit Dürrenmatts Justiz.
Deinen Kenntnissen Schweizer und Berner Geschichte betreffend kann ich nichts entgegensetzen. Dazu bin ich zu viel Österreicher und zu wenig Landsmann. Auf die Frage, ob Dürrenmatt nun ein "grosser gesellschaftskritiker" in deinem Schweizer Sinne gewesen ist, kann ich nur mit einem schamvollen Schulterzucken antworten.
In meinem Anfangstext schrieb ich: Behutsam schließe ich das Buch, erblicke noch einmal die Zeichnung und reihe es schließlich wieder ein in die großen Klugheiten unserer und vergangner Tage. Die Klugheiten also richteten sich ganz sachlich gesprochen keineswegs auf Dürrenmatt. Denn auch ich zähle Dürrenmatt nicht zu den "großen Klugheiten unserer und vergangner Tage". Sehr wohl aber viele jener Bücher, die ich in meinem Buchregal stehen habe. Leider, ja leider kannst du es nicht sehen und also meine Euphorie nicht nachvollziehen. Stündest du davor, lieber Daniel, wüsstest du, von was ich rede. Im Übrigen könnte man auch nicht behaupten, Dürrenmatt sei einzureihen in die "großen Dummheiten unserer und vergangner Tage". Und ich nehme es entschieden nicht hin, das Wort "Nietzsche" zu einem Vergleich heranziehend in einem einfachen Text über Dürrenmatt zu verwenden, nicht zuletzt da die beiden Figuren außer dem Schreiben nichts gemein haben. (Überdies halte ich Canettis Deutsch für geschwätzig und behäbig, alles andere als "grossartig".)
Wie ich schon an anderer Stelle erwähnt habe, lobe ich auch hier erneut die Qualität Dürrenmatts, Figuren lebendig zu machen, ihnen psychologisches Einfühlungsvermögen und individuelle und im höchsten Maße einfallsreiche Wiedererkennungsmomente zu schenken. Die Figuren sind alles andere als "klischiert", wirken mehr wie Menschen als wie "tokkel". In höchsten Grade Menschen, reale, wirkliche, an (fast) jeder (Schweizer) Straßenecke erkennbar.
Neinnein, dieser Roman verdient nicht die schlechteste Absage. Natürlich, im Vergleich mit den ganz Großen (obwohl auch diese hinterfragt gehören) verblasst Dürrenmatt. Aber will ich mich keiner Undankbarkeit unterwerfen, will nicht das Gefühl haben, ich hätte jemandem Unrecht erteilt beim Aufschlagen hirnrissiger Bücher, deren Intentionen aus dem toten Winkel der Relevanz erkennbar sind. Dieser jemand ist wohl Dürrenmatt. Auch wenn dein Köcher noch brodelt.
daniel costantino

über das wort poesie müssen wir uns also nicht weiter in die haare geraten - gut.
die geschichte, die einer zu erzählen hat, und die sprache, die er schreibt. dass ich nun jede geschichte unkritisch und unhinterfragt hinnähme, wie du mich quasi zitierst, bezweifle ich. wo habe ich das gesagt, geschrieben? ich erinnere mich, irgendwo geschrieben zu haben, wenn die sprache herausragend sei, könne mir ein autor erzählen, was er wolle. ein irrtum anzunehmen, man könne eine gute geschichte erzählen ohne gute sprache. man kann auch kein gutes bild malen ohne gut zu malen, was immer gegenstand des bildes sei. tema und sprache sind eng miteinander verflochten. es ist natürlich ein unterschied, ob einer eine fantastische geschichte schreibt, eine satire, ein märchen, einen roman, oder ob er einen tatsachenbericht verfertigt. er wäre aber ein trottel, dazu eine lyrische sprache zu verwenden. das wäre geradezu schlecht und verlogen. die geschichte sei gut, aber die sprache schlecht? dann kann die geschichte nur reiner information dienlich sein. als literarisches produkt aber - weg damit! die sprache wäre gut, aber leider die geschichte verfehlt, ohne belang, nicht der rede wert? damit versperrt man sich den zugang zur kunst. es ist alles der rede wert, es gibt keine unterschiede. dichtung stellt ein reiches beziehungsgeflecht her. im kleinen oder im grossen, mikroskopisch oder makroskopisch. was die welt nötig habe, ist eine politische, keine ästetische frage.
wenn du also von einem trivialen roman schreibst, der aber sprachlich interessant wäre, dann denk ich mir dazu, entweder kann der inhalt nicht trivial sein oder die sprache ist es auch. mir kommt nichts vergleichbares in den sinn. ich habe einigermassen übung darin, zivildienstgesuche junger männer zu lesen, die ihre etischen, moralischen, religiösen überzeugnungen darlegen. habe wohl einige tausend solcher gesuche gelesen in all den jahren. ich spüre beim lesen, ob das alles echt ist, was einer schreibt. da kann mich keine eleganz, keine eloquenz darüber hinwegtäuschen. berühren kann nur das echte, und das braucht nicht einmal herausragend formuliert zu sein. nur echt. wenn also die geschichte trivial ist, erfährt sie keine vertiefung. und das verschuldet ihre sprache. in einem solchen falle lässt sich der betrug ohne weiteres aufdecken. ich stimme also mit deiner ansicht nicht überein. soll ich 'die besessenen' von gombrowitz lesen? unter der bedingung, du machst mit? mag sein, meine tese wäre nicht zu halten. kann aber auch sein, dass ich eine andre meinung hätte von seiner sprache. die wette gilt. du müsstest einfach mitziehen und deinen standpunkt ausführlich darstellen. alleine unternehme ich es nicht, einen roman aufzutreiben, dessen handlung du als trivial charakterisierst.
weltbilder, erfahrungen, behauptungen sollen ins wanken kommen, in wien und in bern. sonst kommt man nicht weiter im leben.
es darf natürlich auch innerhofer sein. das bedeutendste werk, das ich von einem deutschsprachigen autor kenne, heisst 'fluss ohne ufer', der dichter hans henny jahnn. 'die niederschrift des gustav anias horn', teile zwei und drei der trilogie. 'das holzschiff', der prolog, ist noch nicht von der qualität der 'niederschrift'. der 'epilog' ist eine katastrofe, die kraft des dichters erschöpft. der roman wurde in den jahren 1935-47 geschrieben, in skandinavien, wohin jahnn flüchten musste. die 'niederschrift' beinhaltet gut 1500 engbedruckte seiten, reinste, wahrste, hervorragendste dichtung, komposition, musik, und rührt an alle menschheitsfragen. doch vom kriege, der tobte, kein wort.
das 'menschliche klima': was ich von der stelle halte, habe ich gesagt. ich nehme nichts zurück. so wie ichs schrieb, passts. doch gerade beim versuch, dürrenmatts geschichte mehr abzugewinnen, als seine sprache hergibt, habe ich den inhalt dieser und andrer passagen geprüft und als oberflächlich bewertet. es hätte ja sein können, ein oft ungelenker schreiber hätte wichtiges zu sagen gehabt. doch wo er unsorgfältig am wort arbeitet, die sätze reiht, ergibt sich eine plakative, hemdsärmlige, holzfällerhaft breitgeschlagene geschichte, deren figuren nicht immer, aber zur hälfte, tokkelhaft anmuten, klischiert, stereotyp. du zitierst von den stüssi-leupin, -bierlin, -sütterlin, eine stelle, an der es wenig auszusetzen gibt. sie ist anständig geschrieben, gewiss nicht schlecht, wenngleich auch etwas oberflächlich, konventionell in wortwahl und satzbau, wenig sinnlich und nicht berauschend. was ihm hier, und andernorts, aber gelingt: es kommt viel auf wenig raum zusammen, fantasie und pointierte darstellung, ich denke, dürrenmatt gibt zum besten, was er am besten kann, nämlich analysieren.
also, ein einfacher, leicht konsumierbarer text, unterhaltsam und witzig. keine grosse klugheit, temperierte eskapaden, originelle szenarien, kein kitsch, kein quatsch, kein quark. ich wüsste nicht, dass ich dem roman die 'schlechteste absage' erteilt hätte. eines der besten bücher dürrenmatts, einverstanden. grandios, nein. verwegen und gekonnt, was aufbau und durchführung der geschichte anbelangt, den äusseren rahmen. kein grosser roman, wie du anfangs schriebst, nein. ein lesenswerter schon. darin sind wir uns einig.

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